Trauer, Chaos und grosse Wut
Weniger schludrig gebaute Häuser und ein besser funktionierendes staatliches Rettungssystem hätten die Katastrophe von Izmit mildern können.
Von Gunnar Köhne
Der Untergetauchte meldete sich telefonisch bei der Zeitung «Milliyet»: «Wenn sich die Aufregung gelegt hat, werde ich an meine Arbeit zurückkehren.» Das wird Veli Göcer im Ernst kaum wagen. Denn der Bauunternehmer zählt seit einer Woche zu den meistgehassten Menschen der Türkei. Einige Zeitungen stellten den Mann regelrecht an den Pranger. Als die Marmara-Region am Dienstag vergangener Woche für 45 Sekunden von einem Erdbeben der Stärke 7,4 auf der Richter-Skala erschüttert wurde, klappten 20 der von Göcer errichteten Wohnblocks in der Kleinstadt Yalova wie Kartenhäuser zusammen. 200 Menschen starben, allein in einem der sechsstöckigen Bauten wurden 83 Leichen geborgen. Die Betontrümmer wiesen eindeutig Spuren von Meeressand auf. Als der Unternehmer den Schaden begutachten wollte, entging er nur knapp der Lynchjustiz. Eine aufgebrachte Menschenmenge steckte sein Auto in Brand. Göcer soll sich inzwischen ins Ausland abgesetzt haben.
«Mörder» nannte das Massenblatt «Hürriyet» die skrupellosen Bauunternehmer, die die Landflucht aus Anatolien für den schnellen Profit ausnutzen. Allein nach Istanbul strömen jährlich über 200 000 neue Bewohner überwiegend Wirtschafts- oder Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem fernen Osten der Türkei. Für etwa 80 000 Franken, die in monatlichen Kleinraten abbezahlt werden, erhalten die Neuankömmlinge ausserhalb der Stadt eine Neubauwohnung mit Bad und Küche der Traum jedes Dörflers. Dass die Häuser nicht vorschriftsmässig errichtet sind, nehmen viele in Kauf. Das Erdbeben vom vergangenen Dienstag war nach den Worten von Ministerpräsident Bülent Ecevit das «grösste Unglück in der Geschichte des Landes». Es hat vermutlich mehr als 40 000 Todesopfer und 35 000 Verletzte gefordert. Ein Erdbeben von einem ähnlich verheerenden Ausmass 35 000 Tote gab es zuletzt 1990 im Iran. Flugaufnahmen des Epizentrums um die Stadt Izmit zeigen, dass selten ganze Strassenzüge, sondern immer nur einzelne Häuser zerstört wurden so, als habe sich jemand die allerschlechtesten herausgesucht. Diese Häuser wurden durch die Erdstösse regelrecht pulverisiert. Eine Analyse des Schutts brachte schnell zu Tage, dass dem Beton zu viel Sand oder wie bei den meisten Häusern des Baulöwen Veli Göcer Meeressand beigemischt war. Häufig fehlte es auch an genügend Eisenträgern.
Die türkischen Baugesetze unterscheiden sich nicht wesentlich von denen der Schweiz. Sie kommen allerdings kaum zur Anwendung. Inspektionen von Baustellen sind eine Ausnahme. Zudem standen die meisten dieser Wohnkästen auf illegalem Boden. Die «Genehmigung» wurde nachträglich von korrupten Angestellten der Baubehörden erteilt.
Das türkische Parlament hat Anfang Woche eine Untersuchung der Baupraktiken angekündigt, der Bürgermeister von Istanbul verhängte einen Baustopp. Zur Beruhigung des Volkszorns wurden vier Spekulanten vorläufig festgenommen. «Wir müssen diese Diebe und die Offiziellen, die mit ihnen paktieren, entlarven», sagte der islamistische Abgeordnete Hashim Hashimi. «Sonst wird das vergossene Blut der Opfer für immer an unserem Gewissen kleben.»
Doch für viele Türken kommen diese Eingeständnisse zu spät. Bereits nach den schweren Erdbeben in Erzincan 1992 (650 Tote) und Adana im vergangenen Jahr (150 Tote) versprach die Regierung Verbesserungen. «Geschehen ist so gut wie nichts», sagt Feray Salman von der türkischen Architektenvereinigung.
Obwohl 90 Prozent des Landes erdbebengefährdet sind, wurde weder in die Vorbeugung noch in Rettungssysteme investiert. Als am Dienstag vergangener Woche um 3.02 Uhr die Erde bebte, besassen staatliche Rettungsstellen wie Feuerwehr und Zivilschutz immer noch keinen einzigen Rettungshund.
Die Aufklärung der Bevölkerung bestand in dem Ratschlag, sich unter einen Türbogen zu stellen, wenns bebt. Der staatliche Erdbebenfonds, gedacht zur Unterstützung von Überlebenden, wies ein Guthaben von einer Million Lire auf das sind umgerechnet 3.45 Franken. Im Nachhinein wurde auch bekannt, dass Warnungen in den Wind geschlagen worden waren. Japanische Experten hatten die türkischen Behörden vor zwei Jahren darauf hingewiesen, dass sich in der Marmara-Region ein grösseres Beben ereignen könnte. Folgenlos.
Auch nach der Katastrophe zeigte sich der «Staat als völlig unfähig», wie die «Turkish Daily News» spottete. NichtRegierungs-Organisationen und ausländische Rettungsteams aus 42 Ländern stiessen in unermüdlicher Arbeit zu Überlebenden in den Trümmern vor und konnten noch Anfang Woche zwei vierjährige Jungen lebend bergen 146 Stunden bzw. 171 nach dem Beben.
Zu diesem Zeitpunkt waren zahlreiche Helfer aus Grossbritannien und der Schweiz von den Behörden nach Hause geschickt worden. Begründung: Es gäbe «nichts mehr zu tun». Statt Dank bekamen die ausländischen Helfer von dem rechtsnationalistischen Gesundheitsminister Osman Durmus geraten, «keine Show» zu veranstalten. Der Dank der Menschen war dagegen überschwänglich: Wo immer ausländische Helfer mit ihren Suchhunden auftauchten, brach grosser Jubel los.
Einige der schwer getroffenen Ortschaften hatten auch nach Tagen keinen einzigen staatlichen Helfer gesehen. Dort gruben die Menschen auch am Wochenende noch verzweifelt mit blossen Händen oder Schaufeln nach ihren Freunden und Verwandten. Erst am Montag liess der Staat sämtliches schwere Räumgerät Bagger, Bulldozer, Kräne beschlagnahmen. Auch für die Obdachlosen war zunächst keine Hilfe in Sicht. Als Anfang Woche schwere Regenfälle einsetzten, standen gerade einmal 3000 Zelte für 200 000 Menschen. 2500 Zelte aus Deutschland lagen im Zoll fest. Angesichts dieser Zustände erlaubte sich die Zeitung «Hürriyet» daran zu erinnern, dass in der japanischen Stadt Kobe zwei hohe Beamte Selbstmord begingen, weil sie sich nach dem Erdbeben 1995 schweres Versagen vorzuwerfen hatten. Selbst die türkische Armee, die bislang als unantastbarer Hort der Integrität und Effizienz galt, geriet in die Kritik der Medien. Die Generäle hätten geschwiegen und gezögert. «Demoralisiert nicht die Armee», warnte daraufhin der Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu. Er versuchte sich zu rechtfertigen: Über 50 000 Soldaten seien im Einsatz gewesen. Dass sie hauptsächlich mit der Regelung des Verkehrs und der Abwehr von Plünderern beschäftigt waren, verschwieg er.
Dabei verfügt die Armee wie keine andere Institution des Landes über die notwendigen Voraussetzungen, den Opfern einer Katastrophe solchen Ausmasses zu helfen: Genug Personal (mit fast 800 000 Mann ist sie die zweitgrösste Nato-Armee), effiziente Organisation und ausreichend schweres Gerät. Doch statt eine Generalmobilmachung zu verfügen, stiessen die Generäle die Menschen vor den Kopf. In Gölcük wurden alle Kräne und Bulldozer in die örtliche Kaserne dirigiert, wo 200 Soldaten unter den Trümmern verschüttet waren die 3000 Vermissten unter den Zivilisten spielten eine untergeordnete Rolle.
Das liberale Blatt «Cumhuriyet» schrieb: «Wir brauchen grundlegende Änderungen. Sonst gibt es keinen Grund, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.» Düster sieht die Zukunft auch mit Blick auf die materiellen Schäden aus.
60 000 Wohn- und Geschäftshäuser wurden zerstört. Der türkische Unternehmerverband Tüsiad schätzt, dass bis zu 40 Milliarden Franken notwendig sind, um die schlimmsten Schäden zu reparieren. Die am schwersten getroffene Region am Marmara-Meer gilt als das industrielle Herz des Landes, ausländische Investoren wie Toyota haben hier Fabriken errichtet. 45 Prozent der türkischen Industrieproduktion werden im Raum Izmit erwirtschaftet. Die meisten Anlagen haben das Beben zwar überstanden, doch viele Fachkräfte, die sie bedienen können, sind tot. Es wird Monate dauern, bis die Produktion wieder auf Hochtouren laufen wird.
«Wir hatten in diesem Jahr so viel Glück», seufzte ein türkischer Diplomat. «Wir schnappten Abdullah Öcalan. Aber schauen Sie, was jetzt passiert ist: Das Land wurde vom Bösen überrollt.»
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