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AUSLAND

Die letzte Chance

Fünf Landtagswahlen in Deutschland sind der Prüfstein für Kanzler Gerhard Schröder. Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit.

Von Fred Müller

Angelika Thiel lässt sich nicht so leicht unterbuttern. Sie ist ein Kämpfertyp, optimistisch und resolut. Doch in diesen Tagen fällt es der 43-jährigen SPD-Landtagsabgeordneten schwer, weiter an ihre Partei zu glauben, für die sie im ostdeutschen Bundesland Brandenburg in den Wahlkampf zieht.
Mit ein paar Helfern steht die Politikerin vor dem Supermarkt in einem Potsdamer Neubauviertel, wo sie Flugblätter verteilen und mit den Menschen ins Gespräch kommen will. Die Mühe lohnt sich nicht, die Stimmung ist an diesem Samstagmorgen trist wie das Wetter.
Angelika Thiel bleibt auf ihrem Werbematerial sitzen, die meisten Passanten strafen sie mit Ignoranz. Die Politikerin ist frustriert: Die Leistungen der SPD-Landesregierung interessieren die Menschen nicht, der Wahlkampf dreht sich um die Bundespolitik. Und da bekommt Angelika Thiel immer wieder die gleichen Fragen zu hören: Steht die SPD eigentlich noch für soziale Gerechtigkeit? Warum will die rotgrüne Regierung die Renten kürzen, und warum verschont sie in ihrem Sparprogramm die Reichen?
Angelika Thiel weiss nicht, wie sie auf solche Fragen reagieren soll. Sie hat den gleichen widersprüchlichen Informationsstand wie die Zeitung lesenden Bürger, und vor allem weiss sie selbst nicht mehr genau, wie es die Sozialdemokraten mit der sozialen Gerechtigkeit halten. Sie klammert sich an die Hoffnung, dass die Brandenburger am Sonntag doch noch zwischen der Landes- und der Bundespolitik unterscheiden und wieder SPD wählen: «Ohne diesen Glauben könnte ich meinen Wahlkampf einstellen.» Der Glaube Angelika Thiels wirds nicht richten, die SPD muss in allen fünf bevorstehenden Landtagswahlen mit erdrutschartigen Einbrüchen rechnen. In Brandenburg und im Saarland droht der Verlust der absoluten Mehrheit, in Thüringen, Sachsen und Berlin könnten die Sozialdemokraten zur 20-Prozent-Partei degradiert werden. In atemberaubend kurzer Zeit hat die rotgrüne Bundesregierung das Kapital ihres triumphalen Wahlsieges verspielt. Ein knappes Jahr nach den Bundestagswahlen würden nur noch 35 Prozent wieder SPD wählen, Kanzler Schröder ist mittlerweile unbeliebter als sein CDU-Vorgänger Kohl.
Hauptgrund für den beispiellosen Vertrauensverlust einer neuen Regierung ist die tiefe Verunsicherung der SPD-Anhänger, die nicht mehr wissen, wofür die Sozialdemokratie steht und wohin sie will. Der Fall ins Bodenlose begann Mitte März nach dem Rücktritt von SPD-Chef und Finanzminister Oskar Lafontaine. Der Abgang der linken Galionsfigur machte den Weg frei für den putschartigen Durchmarsch von Kanzler Schröder, der die SPD-Fraktion und die Partei von oben nach unten auf seinen Modernisierungskurs zwingen will. Seit dem Abgang Lafontaines ist in der SPD nichts mehr, wie es einmal war. Vor den Europawahlen zauberte Schröder Anfang Juni ohne Rücksprache mit der Partei das Schröder-Blair-Papier aus dem Hut, in dem die beiden Regierungschefs sozialdemokratische Grundwerte auf den Müllhaufen der Geschichte werfen. Die Deutschen quittierten die Verbrüderung der SPD mit New Labour mit einer schallenden Ohrfeige und schickten die SPD in die 30-Prozent-Ecke. «Wir haben verstanden», blaffte Schröder am Abend der verlorenen Europawahl in die Kameras – und legte wenige Tage später ein Sparprogramm vor, mit dem er innerhalb der SPD eine Grundsatzdebatte auslöste und der Regierung ein neues Umfragetief bescherte.
Vollstrecker des schröderschen Willens ist SPD-Finanzminister Hans Eichel. Der Lafontaine-Nachfolger will bis 2003 jährlich 30 bis 40 Milliarden Mark sparen und die horrende Staatsschuld von 1,6 Billionen Mark nach und nach reduzieren. Ein verschuldeter Staat sei unsozial, begründet Eichel sein Spardiktat, weil er seinen Handlungsspielraum verliere und mit dem Schuldendienst die grösste Umverteilung von unten nach oben organisiere. Nach der Rasenmäher-Methode müssen deshalb alle Ministerien ihre Budgets um sieben Prozent kürzen. Gespart wird nicht nur bei der Armee, beim Strassenbau oder beim diplomatischen Dienst, sondern auch bei den Rentnern. Sie sollen sich in den nächsten zwei Jahren mit dem Teuerungsausgleich begnügen und auf die in Deutschland übliche Beteiligung am Reallohnzuwachs verzichten.
Die Rentenkürzung löste einen Sturm der Entrüstung aus. Zum Wortführer der Kritiker machte sich der saarländische SPD-Ministerpräsident Reinhard Klimmt, dem am nächsten Sonntag die Abwahl droht. Das Sparpaket sei unsozial, poltert Klimmt seit Wochen, der rotgrünen Regierung fehle «die spürbare Sorge um die Herstellung und den Erhalt der sozialen Gerechtigkeit»: Anstatt von den Rentnern Opfer zu verlangen, müsse die Regierung die Reichen schröpfen und die von der CDU abgeschaffte Vermögenssteuer wieder einführen. Im Ton moderater, aber in der Sache ebenso hart geht auch Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Manfred Stolpe auf Distanz zum Kanzler: Soziale Gerechtigkeit sei für ihn eine Herzenssache, weshalb er im Bundesrat niemals einem Sparpaket zustimmen werde, das die Rentner benachteilige.
Klimmt und Stolpe drücken aus, was die überwiegende Mehrheit der enttäuschten SPD-Wähler denkt, die das Sparpaket ebenfalls für ungerecht hält. Allerdings dreht sich die Auseinandersetzung nur vordergründig um die Frage, ob den Rentnern der Verzicht auf ein paar Mark pro Monat zuzumuten ist oder nicht. Der Streit eskaliert, weil alle Beteiligten wissen, dass das Sparpaket bloss der erste konkrete Ausdruck des schröderschen Modernisierungskurses ist, der das Ende der traditionellen sozialdemokratischen Wirtschafts- und Sozialpolitik einleitet.
Aus dieser Absicht macht die Schröder-Truppe kein Geheimnis. Sie heizte die Diskussion über die sozialdemokratische Identität in den vergangenen Wochen im Gegenteil kräftig an. Forsch verkündete Kanzleramtsminister Hans-Martin Bury die neue sozialdemokratische Definition von sozialer Gerechtigkeit, die auch jeder Neoliberale unterschreiben könnte: «Gerecht ist alles, was Arbeit schafft.» Finanzminister Hans Eichel forderte eine «Neudefinition sozialer Politik», die sich vom «fürsorglichen Sozialstaat» verabschieden müsse. Und geradezu lustvoll zertrümmerte SPD-Fraktionschef Peter Struck in zahlreichen Sommer-Interviews einen sozialdemokratischen Grundwert nach dem andern. Er forderte radikale Steuersenkungen nach einem Modell der FDP und mokierte sich über die traditionelle Umverteilungspolitik: «Die Idee, von den Reichen zu nehmen, um den Armen zu geben, passt nicht mehr in eine moderne Gesellschaft.» Das alles geht nicht nur den Traditionalisten in der SPD zu weit. Auch durchaus moderate Gewerkschaftsfunktionäre drohen mit einem «Marsch auf Berlin», falls Schröder seinen neoliberalen Kurs nicht umgehend revidiere. Gewerkschaftschef Dieter Schulte kann zwischen der rotgrünen und der CDU-Regierung keinen Unterschied mehr erkennen. Die Gewerkschaften erinnern verbittert an die Spätphase der Kohl-Regierung, als Tausende von Bergarbeitern tagelang das Bonner Regierungsviertel belagerten und von führenden Sozialdemokraten begeistert empfangen und unterstützt wurden. Widerstand formierte sich vergangene Woche auch in der SPD-Bundestagsfraktion, wo Schröder-Gegner mit einer Unterschriftensammlung für ein Anti-Schröder-Blair-Papier begannen. Darin werfen die Autoren dem Kanzler eine «unsoziale Politik» vor und geisseln – ganz im Sinne Lafontaines – den «neoliberalen Irrglauben», wonach steigende Unternehmensgewinne «automatisch für neue Arbeitsplätze sorgen».
Kanzler Schröder pokert hoch. Mit der Hoffnung auf einen Konjunkturaufschwung und ein Arbeitsplatzwunder versucht er handstreichartig jene strukturellen Reformen durchzusetzen, von der die konservativen Vorgänger jahrelang redeten, sie aber nie wirklich anpackten. Der Ausgang dieses Putschversuches von oben ist ungewiss. Denn Schröder wurde nicht Kanzlerkandidat, weil sich die SPD nach dem Beispiel New Labours modernisieren wollte, sondern weil der Siegertyp aus Niedersachsen die Rückkehr an die Macht versprach.
Ohne dieses Sieger-Image wird die Luft für den Modernisierungskanzler dünn. Bleibt die Arbeitslosigkeit hoch und verliert die SPD in neun Monaten auch die Wahlen in ihrer traditionellen Hochburg Nordrhein-Westfalen, könnten jene drei Worte zum neuen SPD-Schlachtruf werden, die Oskar Lafontaine schon jetzt über seinen Rivalen verbreiten lässt: «Der muss weg.»

 

Schröder- Kritiker
«Sich notfalls prügeln lassen»

Die Partei müsse wieder für soziale Gerechtigkeit einstehen, sagt manfred stolpe, SPD-Ministerpräsident von Brandenburg.

FACTS: Herr Stolpe, was muss die
SPD tun, um aus dem Umfragetief herauszukommen?
MANFRED STOLPE: Sie muss sich darauf konzentrieren, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen, das sie in den letzten Monaten verloren hat. Die SPD hat sich selbst eine Glaubwürdigkeitskrise organisiert, weil sie es grob vernachlässigt hat, die Menschen von der Notwendigkeit ihres Tuns zu überzeugen.

FACTS: Denken Sie an eine Rede des Kanzlers zur Lage der Nation?
STOLPE: Ja, in der Richtung. Die SPD-Führung hat geglaubt, dass durch ihre Medienauftritte alles von selbst läuft. Damit hat sie die Wähler unterschätzt, weshalb sich insbesondere in Ostdeutschland eine Enttäuschung über die Sozialdemokratie breit gemacht hat. Wir distanzieren uns in unserem Wahlkampf nicht von der Bundespartei, aber wir sagen ganz klar, dass es um Landes- und nicht um Bundespolitik geht.

FACTS: Auf welcher Seite stehen Sie
im Richtungsstreit zwischen Traditionalisten und Modernisierern?
STOLPE: Ich habe wenig Verständnis für diesen Streit, weil ich fest davon überzeugt bin, dass beide Positionen zusammengehören. Einerseits muss die Sozialdemokratie für die soziale Gerechtigkeit eintreten, anderseits aber auch dafür sorgen, dass sie finanzierbar bleibt.

FACTS: Warum nehmen denn viele Menschen die SPD plötzlich vor allem als Partei der sozialen Kälte wahr?
STOLPE: Weil massgebliche SPD-Politiker in jüngster Zeit den Eindruck entstehen liessen, sie wollten ihr sozialdemokratisches Erbe über Bord werfen. Sollte sich dieser Eindruck verfestigen, können Sie diese Partei vergessen. Das Vertrauen der Menschen in das sozialdemokratische Erbe muss eine Selbstverständlichkeit bleiben.

FACTS: Mit dem «Erbe» meinen Sie den Kampf für soziale Gerechtigkeit?
STOLPE: Ja, natürlich. Dafür stehen Sozialdemokraten seit über hundert Jahren. Sozialdemokraten müssen ihrer Sache treu bleiben und sich für die soziale Gerechtigkeit notfalls prügeln lassen.

FACTS: Nach der Bundestagswahl hat sich die neue Mitte in Luft aufgelöst. War sie bloss ein Spuk?
STOLPE: Bei uns im Osten hat es sie nie gegeben. Ich habe den Begriff immer als Symbol dafür empfunden, dass sich die SPD für neue Bevölkerungsschichten öffnen wollte, die den gesellschaftlichen Veränderungsprozess bereits bewältigt haben. Das ist im Westen auch ein Stück weit gelungen, aber diese neuen Wähler reichen als tragende Kraft nicht aus. Es ist doch sinnlos, mit den Reden über die neue Mitte die FDP-Klientel zu umwerben und gleichzeitig die SPD-Stammwähler zu verlieren.

FACTS: Glauben Sie, Kanzler Schröder kann den Vertrauensverlust aufholen?
STOLPE: Das ist nicht ausgeschlossen, durch den Umzug nach Berlin bekommt die Regierung eine neue Chance.

http://www.facts.ch/cgi-bin/sendtofriend.cgi?url=http://www.facts.ch/stories/a_aus.htm