Navigation

FRONTPAGE
 Schweiz
 Ausland
 Wirtschaft
 Gesellschaft
 Medien
 Wissen
 Computer
 Internet
 Sport
 Kultur
 Wetter

SERVICE
 Archiv
 Toplinks
 Desktopnews
 Factsletter
 Factsforward
 Dossier
 Multimedia
 Übersicht
 Tools
 Abonnement
 Bestellen
 Mediadaten

COMMUNITY
 Openchat
 VIP-Chat
 POP-Chat
 Forum
 Kontakt

PLAYSTATION
 Games
 Casino
 Tango

IMPRESSUM
 Online
 Print

RUBRIKINSERATE
 Immoclick
 Jobclick
 Autoclick
 
AUSLAND

Flug der Hoffnung

Sie wollten der Misere Guineas entfliehen. Sie träumten von Europa. Yaguine Koïtas und Fodé Tounkaras Flucht endete im Radkasten eines Flugzeugs. Für Afrikas Jugend sind sie Märtyrer.

Von Daniel Ammann

Sie wussten, dass es kalt wird. Vielleicht sogar, dass sie erfrieren würden. Yaguine und Fodé hatten mehrere Hosen und Pullover übereinander angezogen, sie trugen Mützen und Jacken. Für feste Schuhe hatte das Ersparte nicht mehr gereicht. So machten sie sich mit Gummi-Schlarpen auf ins Land ihrer Träume.
Der Tod war gnädig mit den beiden Buben aus dem westafrikanischen Guinea. Bevor sie starben, verloren Yaguine Koïta, 15, und Fodé Tounkara, 14, das Bewusstsein. Dann erfroren sie bei minus 55 Grad zehn Kilometer hoch in der Luft.
Ihre Hoffnung auf ein besseres Leben endete im Radkasten eines Airbus A 300-330. Am 28. Juli hatten sie sich als blinde Passagiere ins Fahrwerk des Sabena-Flugzeugs geschlichen. Die beiden wollten aus Guinea, einem der ärmsten Länder der Welt, ins reiche Belgien fliehen. Erst am 2. August fand ein Tankwart vom Brüsseler Flughafen ihre Leichen, aufgeschreckt vom starken Verwesungsgeruch. Fünf Tage lang hatten die zwei toten Buben unentdeckt im Flugzeug der belgischen Airline gelegen, das in dieser Zeit zweimal von Brüssel nach Afrika und einmal nach Spanien flog.
Dachte Yaguine als Letztes an seinen Hilferuf «an die Verantwortlichen Europas»? Einen handgeschriebenen Brief trug er so auf der Brust, dass man ihn auch im schlimmsten Fall finden würde. Für diese Botschaft an die europäischen Länder war Yaguine bereit zu sterben. «Wenn Sie sehen, dass wir uns opfern und unser Leben geben», schrieb er, «dann darum, weil wir in Afrika zu fest leiden. Wir brauchen Sie, um gegen die Armut zu kämpfen und die Kriege in Afrika zu beenden.»
Es regnet seit Stunden wie aus Kübeln. Die Schlaglöcher in der Strasse quellen von rotbraunem Wasser über. Trotzdem kommen immer mehr Leute zum Haus in Yimbaya, dem Vorort der guineischen Hauptstadt Conakry, wo Yaguine lebte. Sieben Tage nach der Beerdigung der beiden Buben wird ihnen nach muslimischem Ritus mit einem Opferfest gedacht. Unter der Zeltplache haben nur vierzig Leute Platz. Mehrere hundert Menschen stehen vor dem Zelt und werden nass. In traditionellen Gewändern hören sie dem Marabut zu, dem islamischen Geistlichen, und zitieren in monotonem Gesang den Koran. Yaguines Vater lächelt verloren, als er die unerwartet grosse Menschenmenge sieht. «Mein Sohn wollte unbedingt studieren», sagt der klein gewachsene, vierzigjährige Mann.
Zwanzig, dreissig Jugendliche tragen weisse T-Shirts, auf die sie Fotos der Toten drucken liessen. LES MARTYRS DE L’AFRIQUE steht in blauer Schrift über den Porträts. Für die grosse Mehrheit der hiesigen Jugend sind Yaguine und Fodé «afrikanische Märtyrer». «Sie haben sich geopfert, damit wir nicht weiter unter so schlechten Bedingungen leben müssen», sagt Ousmane, ein 27-jähriger Student. Viele, die heute am Opferfest ein Zeichen setzen, hatten es sich nicht leisten können, beim Begräbnis ihrer Freunde dabei zu sein. Die zehn Kilometer lange Busfahrt zum Friedhof Cameroun im Stadtzentrum kostet 300 guineische Francs, rund 35 Rappen. Zu teuer in einem Land, wo vierzig Prozent der Bevölkerung mit weniger als 1000 guineischen Francs (1.10 Franken) pro Tag auskommen müssen.
Yaguine und Fodé stehen für eine ganze Generation. Wo immer wir mit jungen Frauen und Männern sprechen, ob am Opferfest oder in der Universität, auf dem Friedhof, im Café oder auf der Strasse; alle haben es satt, in Conakry keine Zukunft zu haben. Sie träumen von einem menschenwürdigen Leben in Europa. Wie prächtig das aussieht, wissen sie genau. Täglich wird es ihnen auf den französischsprachigen Fernsehkanälen Canal Plus, TV 5 oder MCM vorgeführt. Guinea ist zwar ein Armenhaus der Welt, hat aber mit Kabelfernsehen und Satellitenschüsseln ein Fenster in die reiche Welt. «Das ist der gemeinsame Wille, der die Jugend Afrikas verbindet: Sie will weg», sagt Thierno Djallo. Der Direktor der Zeitung «Le Lynx» in Conakry sieht die jugendlichen Auswanderungs-Träume nicht als spezifisch guineisches, sondern als gesamtafrikanisches Phänomen. Yaguine und Fodé, sagt er, hätten aus Mali, Kamerun oder Sierra Leone kommen können, aus Ruanda, Togo oder Kongo. Das ist für Djallo das Entscheidende am selbstmörderischen Fluchtversuch. «Solange die Unterschiede zwischen Nord und Süd, zwischen Reich und Arm so gross sind, wird sich das nicht ändern.»
Wer sich in Conakry umsieht, versteht ihr Motiv. Die Millionenstadt macht einen hoffnungslosen Eindruck. Ausserhalb des Zentrums leben die Menschen in ebenerdigen Häusern, die Holzbaracken ähneln. Die Wellblechdächer sind durchgerostet. Wie die verbeulten Autos, die im Schritttempo fahren, um den Schlaglöchern auszuweichen. Es gibt nur eine intakte Strasse. Sie bestätigt das Bonmot, wonach in afrikanischen Staaten die schnellste Strasse vom Präsidentenpalast zum Flughafen führt. Überall liegt Abfall herum, der Gestank von Urin sticht in der Nase. In der Regenzeit gleichen die Strassen Kloaken. «M’sieur», «M’sieur», ruft ein Bub, vielleicht 6-jährig, hebt ein dreckiges Stück Stoff am rechten Schienbein und zeigt eine eitrige Wunde. Er bettelt um Medikamente. Die gibts zwar in jeder Apotheke zu kaufen, aber nur die Reichen können sie sich leisten. Krankenkassen gibt es keine – wie in den meisten afrikanischen Ländern.
Immerhin: In Guinea herrscht kein Krieg, im Unterschied zu den Nachbarstaaten Sierra Leone oder Liberia, wo War-Lords mit ihren Milizen während Jahren die Bevölkerung abschlachteten. «Niemand muss hier verhungern», sagt Odile Akpaka vom Uno-Kinderhilfswerk Unicef in Conakry. Das soziale Netz der Grossfamilie trägt. Die meisten haben ein Dach über dem Kopf und tragen anständige Kleider. Für alles andere müssen sie kämpfen. Fliegende Händler verkaufen billige Uhren und gefälschte Lacoste-Shirts, Zahnpasta und raubkopierte Musikkassetten. Oder den eigenen Körper. Junge Frauen prostituieren sich für 3000 guineische Francs – 3 Franken 30. Kein Wunder, wollen alle weg. Alpha Amadou zum Beispiel. «Schaut mich doch an», sagt der 23-jährige Gymnasiast und schämt sich, weil er nur kurze Hosen trägt. In jeder Klasse seines Lycée Donka sitzen 140 Schüler. Von den Decken des Schulzimmers tropft Wasser, die Toiletten sehen aus, als seien sie seit Jahren verstopft, und einen Computer hat hier einzig der Rektor. «In Guinea herrscht ein akuter Mangel an Lehrerinnen und Lehrern», sagt Unicef-Frau Akpaka. Sie kennt einen Grund dafür: Der internationale Währungsfonds IWF hat Guinea als Gegenleistung für Umschuldungen und neue Kredite ein rigides Strukturanpassungs-Programm verschrieben und zwingt das Land, seinen aufgeblähten Staatsapparat abzuspecken. Ein Beispiel, wie die Schuldenlast die Entwicklung behindert. Guinea steht mit 3,1 Milliarden Dollar in der Kreide.
Auch Djebul Camara will das Land verlassen. Der junge Friedhofswächter vollbringt jeden Monat Kunststücke, um mit 20 000 Francs (22 Franken) Gehalt Zimmer, Kleidung und Nahrung zu bezahlen. «Natürlich weiss ich das», sagt er auf den Einwand, dass ihn niemand in Europa will: «Aber wenigstens hat man dort eine Chance.»
Mariama Dian, die Studentin der Sozialwissenschaften, hat trotz Uni-Abschluss nur wenig Chancen auf eine Stelle. Seit 15 Jahren rekrutiert der Staat fast keine Uni-Abgänger mehr. Eine Privatwirtschaft, die Arbeitsplätze anbieten könnte, existiert praktisch nicht. Von tausend Uni-Absolventen haben letztes Jahr laut Statistik nur fünfzig einen Job gefunden. Dabei ist Guinea reich. Das Land fördert weltweit am meisten Bauxit, den Rohstoff für Aluminium, und schürft Gold und Diamanten. Doch ein Grossteil der Profite versickert in den Taschen der korrupten Bürokratie und in den Kassen westlicher Konzerne. «Für jede Telefonleitung, für jeden Import eines Computers muss ich zuerst einen Beamten oder Politiker bestechen», sagt ein libanesischer Geschäftsmann.
«Die Afrikaner sind zu einem grossen Teil selber verantwortlich für ihre Misere», sagt Zeitungs-Direktor Thierno Djallo. Er denkt an die korrupten Politiker und machtgierigen Militärs, die etliche Länder südlich der Sahara zum eigenen Vorteil ausplündern und herunterwirtschaften, ihren Bevölkerungen Demokratie und Menschenrechte verwehren. Die Bürgerkriege im Kongo und in Angola, in Sierra Leone und in Liberia werden durch Diamantenhandel finanziert, die Herrscher in Nigeria und im Sudan wurden durch Ölexporte zu Dollarmilliardären. Die Käufer, die sich mit billigen Rohstoffen eindecken, sitzen allerdings im Norden. Und dass die Bankkonten der afrikanischen Potentaten oft in der Schweiz liegen, ist Djallo nicht entgangen. «Faire Preise für Rohstoffe zahlen», sagt Odile Akpaka von der Unicef auf die Frage, wie Europa helfen könnte.
Es ist weniger die Armut als die Hoffnungslosigkeit, die auch jene Jugendlichen vertreibt, denen es verhältnismässig gut geht. Yaguine zum Beispiel. Sein Vater Limane Koïta hat als Radio- und Fernseh-Reparateur meistens Arbeit. In guten Monaten verdient er 100 000 guineische Francs (110 Franken), in schlechteren ein Drittel. Die Familie wohnt in einem gepflegten Zwei-Zimmer-Haus aus Stein, das Wellblechdach ist neu. Es hat kein fliessendes Wasser, aber Elektrizität. Im Wohnzimmer steht ein Kühlschrank, was selten ist, und ein Fernseher, zwei Sofas und eine Stereoanlage. «Yaguine war ambitioniert», sagt Limane, der den Ehrgeiz seines Sohnes nach Kräften unterstützte, ihm den Besuch des Collège Français ermöglichte. Die öffentlichen Schulen in Guinea sind zwar gratis, doch müssen die Schüler sämtliches Material selber kaufen – Bücher, Schreibzeug, Hefte, Uniformen. Für Familien mit mehreren Kindern ist das eine grosse finanzielle Belastung. Yaguine wollte Anwalt werden, dafür lernte er ständig und ging selten aus. «Er war mein bester Schüler», sagt die Lehrerin Maïkoum Doukoumé. Und was alle Lehrerinnen auf der ganzen Welt loben würden: «Yaguine hat nie geschwänzt.» Fodé, der ganz in der Nähe wohnte, hatte weniger gute Voraussetzungen. Sein Vater Karamoko Tounkara bekommt als ehemaliger Chauffeur eine Rente von 3180 Francs (3.50 Franken) pro Monat. Das reicht nirgends hin, und so muss der würdevolle Mann mit silbergrauem Haar noch als Nachtwächter arbeiten. Mit 68 Jahren gilt Karamoko als sehr alt – die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt in Guinea 47 Jahre. Die Mutter Damayé Kourouma, 45, sammelt Blätter der Erdknolle Kassava und verkauft sie auf dem Markt. Fodé arbeitete, wie es hier für die meisten Kinder üblich ist, täglich mit.
Das Haus, wo die Familie Tounkara ohne Strom und Wasser auskommt, besteht aus einem Raum, kaum 15 Quadratmeter gross, der durch einen Stoffvorhang unterteilt ist. Viel steht nicht darin. Die Eltern und das jüngste Kind schlafen zu dritt auf einer Schaumgummi-Matte auf einem rostigen Bettgestell. Die sechs weiteren Kinder liegen auf dünnen Bastmatten am Boden. Das Essen bereitet die Familie vor dem Haus auf einem selbst gebastelten Kohle-Kocher zu. «Fodé verliess uns vielleicht wegen unserer Armut», sagt Mutter Damayé. Das ärgert den gläubigen Vater Karamoko: «Jede Familie hat, was sie hat. So wollte es Gott.»
Limane Koïta sah seinen Sohn zum letzten Mal am Mittwochabend, 28. Juli, um zwanzig nach sieben. Yaguine verabschiedete sich, um einige Tage bei der Grossmutter im Stadtzentrum zu verbringen. Dass er sich in Wirklichkeit mit Fodé in den Airbus schlich, kam für den Vater überraschend. «Hätte ich etwas geahnt», sagt Limane und verdeckt die Augen mit beiden Händen, «ich wäre sofort zum Flughafen, um ihn daran zu hindern.» Er versucht, die Fassung zu wahren. Doch der stumpfe Blick verrät den gebrochenen Mann. Vor einem Jahr hat er schon seine Tochter durch Typhus verloren.
Seit seiner Kindheit war Yaguine von den Flugzeugen fasziniert, die in der Nähe des Hauses auf dem Flughafen von Conakry landeten. «In welches Land würdest du am liebsten reisen?», fragte er Freunde und Kollegen gerne. Er wollte nach Frankreich, wo seine Mutter lebt, die sich 1987 vom Vater getrennt hatte. Und Yaguine liebte es, die Namen der Airlines zu erraten, bevor sie landeten. Die Air France zum Beispiel, die Air Afrique und natürlich seine Favoritin, die belgische Sabena, die viermal pro Woche nach Brüssel fliegt. Ein Sabena-Sticker klebt auch auf der Mittelstange seines Velos. Limane Koïta hat das Zweirad nach dem Tod seines Sohnes ins Schlafzimmer genommen. Als ob ihm Yaguine dadurch nahe bliebe.

 

Der Brief der zwei Buben
«Wir müssen Sie um Hilfe bitten»
Yaguine und Fodé trugen auf ihrer Flucht einen Brief bei sich, gerichtet an die «Verantwortlichen in Europa».

Eure Exzellenzen, Herren Mitglieder und Verantwortliche Europas Wir haben das ehrenvolle Vergnügen und das grosse Vertrauen, Ihnen diesen Brief zu schreiben, um Ihnen den Grund unserer Reise und vom Leiden der Kinder und Jugendlichen in Afrika zu schildern.
Zuerst aber wollen wir Sie herzlichst grüssen und Ihnen unseren Respekt und unsere Bewunderung aussprechen. Helfen Sie uns. Vergessen Sie Afrika nicht. Wir müssen Sie um Hilfe bitten.
Wir flehen Sie an, um der Liebe zu Ihrem schönen Kontinent willen, um der Gefühle für Ihr Volk, für Ihre Familien und vor allem um der Liebe und der Zuneigung zu Ihren eigenen Kindern, die Sie lieben wie das Leben. Und aus Liebe zu unserem Schöpfer, dem Allmächtigen, der Ihnen die Erfahrung, den Reichtum und die Kraft gegeben hat, unseren Kontinent gut zu organisieren und ihn zum schönsten und bewundernswertesten zu machen.
Herren Mitglieder und Verantwortliche Europas, wir appellieren an Ihre Solidarität und an Ihre Freundlichkeit, um Afrika zur Rettung zu verhelfen. Helfen Sie uns. Wir leiden in Afrika ungeheuerlich. Helfen Sie uns. Wir haben Probleme, und es mangelt den Kindern an Rechten. Es gibt bei uns Krieg, Krankheit, Hunger usw.
Was die Rechte der Kinder in Afrika, vor allem in Guinea, betrifft: Wir haben zwar Schulen, aber einen grossen Mangel an Lehrkräften und Ausbildung. Nur in den Privatschulen bekommt man eine gute Bildung. Die kosten aber sehr viel, und unsere Eltern sind arm. Die Mittel, die sie haben, brauchen sie, um uns zu ernähren. Erst dann kommen Schulen und Sport wie Fussball, Basketball, Tennis usw.
Darum bitten wir Afrikaner Sie, insbesondere wir afrikanischen Kinder und Jugendliche, eine grosse und wirksame Organisation für unseren Kontinent aufzubauen, damit er Fortschritte macht.
Wenn Sie sehen, dass wir uns opfern und unser Leben geben, dann darum, weil wir in Afrika zu fest leiden. Wir brauchen Sie, um gegen die Armut zu kämpfen und die Kriege zu beenden. Auch wir würden gerne studieren, und wir bitten Sie, uns dabei zu helfen, damit wir in Afrika so leben können wie Sie.
Zum Schluss entschuldigen wir uns ganz, ganz fest, dass wir es wagen, Ihnen diesen Brief zu schreiben. Wir sind Ihnen grossen Respekt schuldig. Vergessen Sie aber bitte nicht, dass Sie es sind, denen gegenüber wir die Ohnmacht Afrikas zu beklagen haben.»