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AUSLAND

Das auserwählte Volk

Sie leben abgeschottet von der Welt und spielen eine wichtige Rolle für die Zukunft der Menschen. Die in den USA lebenden Amish, Nachkommen religiöser Auswanderer aus der Schweiz, werden zu Pionieren für die Gentechnologie.

Von Erik Nolmans

Ein unheimliches Licht liegt in dieser Sommernacht über dem kleinen Ort Strasburg im US-Staat Pennsylvania. Aus einem Dutzend Fenster des Ortsgasthofes dringt ein gespenstisch blauer Schein.
Das Leuchten ist umso auffallender, als die umliegenden Häuser nur von Kerzenlicht oder Öllampen erhellt werden. Strasburg ist das Zentrum des Landes der Amish. Hier, nur rund 60 Kilometer von der Millionenstadt Philadelphia entfernt, leben die Nachkommen religiöser Auswanderer aus der Schweiz und dem Elsass noch wie im 18. Jahrhundert. Die Amish fahren in Kutschen statt Autos, haben keine Elektrizität, keinen Fernseher, keinen Kühlschrank, kein Telefon, keine Zentralheizung. Ihr Wasser holen sie aus dem eigenen Brunnen, auf ihren Farmen ziehen Pferde statt Traktoren die Pflüge.
Das blaue Licht kommt von Ultraviolettlampen. Es erhellt die Betten von 20 schwer kranken Amish-Kindern, die mit ihren Eltern nach Strasburg gekommen sind. Zum Teil mit Pferden und den typischen schwarzen Kutschen sind sie zu einem Medizinkongress angereist.
Die Männer mit ihren altmodischen schwarzen Hüten, die Frauen mit ihren Häubchen aus Grossmutters Zeiten haben sich mit ihrer Reise nach Strasburg entschlossen, zu Pionieren der Moderne zu werden: Ausgerechnet die Amish, Repräsentanten einer längst vergangenen Epoche, stehen davor, die Menschheit in der modernsten aller modernen Errungenschaften einen enormen Schritt voran zu bringen – in der Gentechnologie.
Drei Kinder aus dem Volk der Amish sind auserwählt, die ersten Menschen zu sein, an denen eine neue Form der Gentherapie getestet werden soll. Die von US-Wissenschaftlern entwickelte Technik heisst Chimeraplasty. In die Venen wird ein spezieller Wirkstoff gespritzt, der den Körper dazu anstiftet, seine kaputten Gene zu flicken. Wenn der Versuch funktioniert, wovon die Experten ausgehen, können nicht nur die betroffenen Amish-Kinder von ihrer schweren Krankheit befreit werden. Auch für die gesamte Medizin eröffnet sich eine viel versprechende Zukunft im Kampf gegen eine ganze Reihe von Leiden. «Es wird die Art, wie Medizin heute praktiziert wird, fundamental verändern», sagt Genforscher Michael Blaese aus Philadelphia, der an den Untersuchungen mitgearbeitet hat. Laut Genetik-Professor Clifford Steere, Universität Minnesota, ist dies das erste Mal, dass eine auf einem Gen basierende Krankheit «permanent korrigiert werden kann».
Die 20 Kinder unter dem Ultraviolettlicht in Strasburg leiden an einer schweren Leberkrankheit, genannt Crigler-Najjar-Syndrom. Die Krankheit beruht auf einem genetischen Defekt, der dazu führt, dass die Leber einen Stoff namens Bilirubin nicht abbaut. Haut und Augen der Betroffenen werden gelb. Eine ungefährliche Form des Bilirubin-Überschusses ist in der Schweiz als Baby-Gelbsucht bekannt: Ein Drittel der Neugeborenen hat in der ersten Lebenswoche zu viel des Gallenpigments. Beim Crigler-Najjar-Syndrom ist der Bilirubin-Überschuss aber permanent. Langfristig schädigt Bilirubin das Hirn, was dazu führt, dass die meisten Patienten noch vor Erreichen der Adoleszenz sterben. Die einzige Therapie bisher ist Ultraviolettlicht, das den schädlichen Stoff abbaut. Die Kinder müssen täglich zehn bis zwölf Stunden in ihren UV-Betten liegen. Im Teenageralter jedoch beginnt diese Therapie ihre Wirkung zu verlieren. Dann kann höchstens eine Lebertransplantation vor dem Tod retten.
Das Volk der Amish und der mit ihnen verwandten Mennoniten ist für Genforscher interessant, weil sich ihre Familien, die alle von einer kleinen Gruppe Einwanderer aus dem 18. Jahrhundert abstammen, genetisch über Generationen zurückverfolgen lassen. Weil die inzwischen rund 150 000 Amish, Nachfahren protestantischer Wiedertäufer, nur innerhalb ihrer Religionsgemeinschaft heiraten dürfen, sind genetische Krankheiten überdurchschnittlich häufig.
Was der Volksmund salopp Inzucht nennt, hat die Amish genetisch über Generationen eng verknüpft. Im Landkreis Lancaster – wo auch Strasburg liegt – sind laut Studien von 1850 Ehepaaren alle bis auf drei miteinander verwandt.
Inzucht ist besonders dann gefährlich, wenn es in einem Volk rezessive Erbkrankheiten gibt. Eine solche Krankheit kommt nur dann zum Vorschein, wenn beide Elternteile das defekte Gen tragen.
Die Amish sind für Genforscher perfektes Studienmaterial. Bis auf 14 Generationen zurück lasse sich die Krankheitsgeschichte einzelner Patienten verfolgen, sagt Holmes Morton, der in Strasburg die Clinic for Special Children leitet. Bis heute hat die Klinik 36 Erbkrankheiten innerhalb der Amish-Gemeinschaft identifiziert. Eine dieser Krankheiten, die zwergenhafte Körpergrösse und Hände mit sechs Fingern bewirkt, konnte genau zurückverfolgt werden auf den Immigranten Samuel King von 1767.
Die Leberkrankheit Crigler-Najjar führen die Wissenschaftler auf eine Mutation zurück, die vor mehreren hundert Jahren stattgefunden haben muss. Die Wiedertäufergemeinschaft der Amish, genannt nach ihrem Schweizer Gründer Jacob Ammann, verliess während der Reformationskriege ihre schweizerischen Stammlande, um ins Elsass und später in die USA auszuwandern. Die Amish, eine der ältesten Bevölkerungsgruppen in den USA, sprechen heute noch ihre eigene Sprache, eine Art schweizerdeutsch-elsässisch eingefärbtes Hochdeutsch.
Der Ursprung der Krankheit liegt möglicherweise in den abgesonderten Berggebieten der Schweiz selber, jedenfalls haben «genetisch isolierte Bevölkerungsgruppen wie in der Schweiz die Tendenz zu seltenen Erbkrankheiten», sagt Genforscher Blaese. Die Stammväter der Amish stammen aus der Gegend des heutigen Kantons Bern. Sicher weiss man, dass die Mutation noch vor der Abtrennung der Mennoniten von 1594 stattgefunden haben muss, denn der Erbdefekt ist bei beiden Wiedertäufergruppen zu finden.
Dass es nun gerade die Amish sind, die für die modernste Art der Gentherapie auserwählt werden, sehen viele Wissenschaftler als ein Dankeschön für die Tatsache, dass das detaillierte Studienmaterial über diese Bevölkerungsgruppe der Gentechnologie als Wissenschaft schon seit Jahrzehnten hilft: «Es ist nur fair, dass die Amish, die so viel zur Humangenetik beigetragen haben, die ersten sind, die jetzt die neue Therapie erhalten», sagt Klinikleiter Morton.
Doch Dankbarkeit ist wohl nicht der einzige Grund. Das Crigler-Najjar-Syndrom ist auch darum als Testfall für die neue Chimeraplasty geeignet, weil sich der Erfolg der neuen Methode bei dieser Krankheit sehr leicht messen lässt. Einfache Bluttests, die zeigen, ob der schädliche Stoff Bilirubin abnimmt, genügen, um nachzuweisen, ob die Gene tatsächlich wieder hergestellt sind. Die Amish stellen mehr als die Hälfte aller Crigler-Najjar-Fälle in den USA. Entwickelt wird das Medikament für die Chimeraplasty von der Firma Kimeragen in Philadelphia. Pharmamultis wie die Schweizer Roche hatten diesmal das Nachsehen. «Die grossen Schweizer Firmen interessieren sich eben weniger für Randkrankheiten, die nur wenige Leute betreffen», sagt Kimeragen- Forscher Blaese. Das könnte sich rächen. Die gleiche Methode könnte bald auf viele andere Genkrankheiten ausgeweitet werden, glaubt Klinikleiter Morton. Alle Krankheiten, denen Genmutationen zu Grunde liegen, wie etwa mehrere Krebsformen, gelten als künftige An-wendungsgebiete. Damit eröffnet sich ein Milliardenmarkt.
Die Amish selber sind für ihre Rolle als Trendsetter in der Spitzenmedizin alles andere als prädestiniert. Wie aller modernen Technik stehen sie auch der Medizin skeptisch gegenüber. Viele Amish lassen ihre Kinder nicht impfen, was noch 1979 zu einer Kinderlähmungsepidemie in Pennsylvania geführt hat. In ihrer religiösen Vorstellung ist es Gott, der heilt, nicht der Mensch. Eigene Ärzte haben sie nicht, weil sie nach der achten Klasse die Schule verlassen und sich keine Hochschulbildung aneignen dürfen. Sie lassen sich zwar von den Ärzten der Engländer – wie sie die nicht-amishen Amerikaner nennen – behandeln und gehen auch für Operationen ins Spital. Doch nur nach grossem Zögern. «Ich musste in langen Diskussionen Vertrauen aufbauen», erzählt Klinikleiter Morton. Beeindrucken kann man die Amish nicht mit medizinischen Erfolgen. Wichtiger ist persönliche Integrität. Dass Morton seine Kinderklinik im ländlich abgelegenen Strasburg gebaut hat und zudem nach den Bauvorschriften der Amish – ohne einen einzigen Metallnagel – mag viel zu dieser Vertrauensbildung beigetragen haben. Bei der medizinischen Behandlung sorgt der Kulturbruch zwischen den altertümlichen Amish und dem Amerika des 20. Jahrhunderts allerdings immer wieder für Schwierigkeiten. Weil die Amish nicht Auto fahren dürfen, sind sie im Notfall mit ihren Kutschen oft zu spät beim Arzt. Auch von den Ultraviolett-Betten für die leberkranken Kinder liessen sich die Amish nur schwer überzeugen. Sie lehnen Elektrizität ab, in ihren Häusern gibt es kein einziges Stromkabel. Der Grund ist, dass die Amish niemals von irgendjemanden von ausserhalb ihrer Gemeinschaft abhängig sein wollen – erst recht nicht von irgendwelchen grossen Stromgesellschaften. Einzelne Kranke haben von ihren Bischöfen Ausnahmebewilligungen für Stromleitungen erhalten, für die andern liefern Generatoren den Strom für die Lichtbetten.
Problematisch ist auch die Bezahlung der Behandlungen. Unter den Grundsatz, unabhängig zu sein, fällt auch die Ablehnung von Versicherungen und Krankenkassen. Eine Sonderregelung hat die Amish davon befreit, sich wie alle anderen Amerikaner der staatlichen Sozialvorsorge anzuschliessen. Für Behandlungen, die mitunter mehrere hunderttausend Dollar kosten, legt man in der Amish-Gemeinschaft zusammen. Genauso wie ganze Dörfer einem neuen Ehepaar beim Bau seines Hauses und Hofes helfen – recht realistisch gezeigt im Hollywoodfilm «Witness» mit Harrison Ford –, spielt auch im Falle von Krankheit die Solidarität der Bauerngemeinschaft. Für die Familien, die sich keine UV-Betten leisten können, hat ein Handwerker aus der Gemeinschaft der Mennoniten mit alten Solariumlampen und Spiegeln Lichtbetten gebastelt.
Den Amish selber ist die Rolle, die sie für die medizinische Zukunft der Menschheit spielen, egal. Die Interessen der Betroffenen sind viel naheliegender. Eltern können erstmals auf Heilung der tödlichen Krankheit hoffen. Und ein kleines Kind, das die Leberkrankheit hat, sagt: «Ich will nie mehr unter diesem grässlichen blauen Licht schlafen.»

 

Amish- Gene
Neues Verfahren zur Genreparatur

Anfang September machte eine medizinische Neuentwicklung Schlagzeilen in den USA: Forscher der Universität von Minnesota und des Albert Einstein College of Medicine in New York präsentierten in einer Pressemitteilung eine neue Technik zur permanenten Reparatur von Genen und nannten sie Chimeraplasty.
Dabei wird eine Kombination aus den Erbmolekülformen DNA und RNA (genannt Chimeraplast) intravenös verabreicht. Das neue Molekül wird von der Leber aufgenommen. Einmal in den Leberzellen, benützt es die natürlichen Reparaturenzyme, die es in jeder Zelle gibt, um die abnormalen Gene wieder herzustellen.

Tests ab Frühling
Derzeit liegt bei der staatlichen Medikamentenprüfanstalt, der Food and Drug Administration (FDA), der Antrag, das Medikament erstmals an Menschen anzuwenden. Die Tests dürften kommenden Frühling starten. Die erste Krankheit, die damit bekämpft werden soll, ist das Crigler-Najjar-Syndrom, eine erbliche Funktionsstörung der Leber. Ausgewählt sind Patienten aus der Bevölkerungsgruppe der Amish, bei denen die Mutation in den Leberzellen überdurchschnittlich häufig vorkommt. Alle Testpatienten kommen aus der Clinic for Special Children in Strasburg, Pennsylvania. Der Klinikleiter, Kinderarzt Holmes Morton, behandelt 16 Kinder mit der Leberkrankheit. Morton hat durch seine Studien über Genkrankheiten der Amish einen Grossteil der Grundlagen für die Entwicklung der neuen Methode geschaffen.