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AUSLAND

Der schwache Riese

Nach 50 Jahren Kommunismus ist China vom Westen abhängiger denn je. Trotzdem inszeniert sich das Regime als Weltmacht.

Von Harald Maass

Sie haben keine Mühen gescheut. Monatelang hat Pekings Führung auf diesen Tag hingefiebert: Heerscharen von Arbeitern haben gebuddelt, geteert und gepflanzt. Seit Jahrzehnten vernachlässigte Strassen wurden ausgebessert, graue Parkanlagen in Handarbeit begrünt, der Rasen extra aus Europa importiert. Die Fassaden der verrusten Wohnsilos entlang der Stadtautobahn hat man frisch getüncht. Ein neuer Flughafen wurde gebaut, Zehntausende Wohnungen, Schnellstrassen, U-Bahn-Strecken, ein Botanischer Garten, eine Bücherei.
Das letzte grosse kommunistische System der Erde bäumt sich zu einem Kraftakt auf. Peking soll strahlen, wenn die Volksrepublik China am 1. Oktober den 50. Jahrestag ihrer Staatsgründung feiert. Zum vermutlich letzten Mal darf sich der chinesische Kommunismus feiern: Soldaten marschieren im Stechschritt. Arbeiter schwingen Fahnen. Kleine Mädchen singen patriotische Lieder – das Programm einer vergangenen Epoche. 22 Milliarden Franken lässt sich Peking das Spektakel und die Neubauten im ganzen Land kosten. Allein in der Hauptstadt werden 500 000 Menschen an der Parade auf dem Platz des Himmlischen Friedens teilnehmen, 650 000 Blumen wurden entlang der Aufmarschstrecke gepflanzt.
Nichts wird dem Zufall überlassen. Monatelang hat Chinas Sicherheitspolizei das Land mit Razzien überzogen. 300 000 Wanderarbeiter und Bettler wurden aus der Hauptstadt verbannt, 100 000 Prostituierte und Kleinkriminelle hinter Gitter gesteckt – «um das Volk zu säubern», wie ein Polizeisprecher sagte. China soll ungestört jubeln – auf Kommando: Damit die Menschen ihre «grossartige Freude» zum Ausdruck bringen, veröffentlichte die KP fünfzig offizielle Slogans: «Zelebriert wärmstens den 50 Jahrestag!»; «Lang lebe die Kommunistische Partei!»; «Lang lebe die grosse Volksrepublik China!»
Vielen Chinesen ist jedoch nicht zum Feiern zumute. Der Wirtschaftsboom, 1978 von Deng Xiaoping durch die Reform der Planwirtschaft gestartet, ist ins Stocken geraten. Immer mehr Staatsbetriebe melden Konkurs an, die Arbeitslosigkeit ist auf einem Rekordstand. Allein im ersten Halbjahr haben 7,3 Millionen Chinesen ihren Job verloren. Einer von ihnen ist Wang Tian-chang. Seine bankrotte Textilfabrik hat ihn auf die Strasse gesetzt. Um sich finanziell über Wasser zu halten, fährt der 57-Jährige mit einer Rikscha Stoffballen am Markt in Peking. «Haben wir jetzt nicht eine wunderschöne Hauptstadt?», fragt er zynisch und zeigt auf eine mit elektrischen Christbaumkerzen ausgeleuchtete Parkanlage. «Dass wir kaum genug Geld zum Leben haben, interessiert die Partei nicht.»
50 Jahre nach Maos Revolution weht vielen der Wind der Marktwirtschaft ins Gesicht. Die Eiserne Reisschale – das Konzept Maos, das jedem Chinesen ein Leben lang Arbeit, Wohnung und soziale Versorgung garantieren sollte – ist zerbrochen. Wer heute auf die Schule oder Universität will, muss zahlen. Krankenhäuser behandeln nur noch gegen Vorauskasse. Was das noch mit Kommunismus zu tun hat? «Der Aufbau einer sozialistischen Wirtschaft mit chinesischer Charakteristik», fabuliert Staats- und Parteichef Jiang Zemin, «bedeutet die Entwicklung einer Marktwirtschaft unter dem Sozialismus und ständiger Emanzipierung der Arbeitskräfte.»
Verstehen kann das niemand, und deshalb verlässt sich Pekings Führung auf profane Mittel, um die Stimmung zu heben: Rechtzeitig vor den Feierlichkeiten wurden die Löhne und Bezüge von 84 Millionen Staatsangestellten, Rentnern und Arbeitslosen erhöht, umgerechnet 10 Milliarden Franken streut die Regierung unters Volk. Seit Monaten bejubeln die staatlichen Medien die Erfolge der Revolution. China sei «aus der Asche zu einer Grossmacht» («Arbeiterzeitung») aufgestiegen. Die Führung schürt den Nationalstolz. Bei der Pekinger Festparade marschiert die Volksbefreiungsarmee in erster Reihe. Panzer und Kurzstreckenraketen werden über den «Boulevard des ewigen Friedens» rollen, Militärjets am nordchinesischen Himmel fliegen.
Regierungspropaganda und Massenaufmarsch wollen den Chinesen einreden: Wir sind wieder wer. Pekings Kommunisten versuchen verzweifelt, sich nach Jahrzehnten der Mangelwirtschaft, nach verheerenden Hungersnöten und politischen Exzessen als künftige Weltmacht zu präsentieren. «China wird so mächtig sein wie der Tai-Berg. Die Welt wird nicht auf uns herunterblicken können», sagte einst Deng Xiaoping. Bloss: Der Weg bis dahin ist länger und steiniger, als der alte Reformer ahnen konnte. Die Volksrepublik ist bis heute ein Entwicklungsland. Die Mehrheit der Chinesen lebt gemessen an internationalen Massstäben in Armut – trotz der rasanten Entwicklung der lezten zwei Jahrzehnte, die Millionen Familien bescheidenen Wohlstand brachte.
Pekings Traum von der Weltmacht liegt in weiter Ferne. In China lebt zwar ein Fünftel der Erdbevölkerung, und doch erwirtschaftete das Land 1997 nur gerade 3,5 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts (BIP). Gemessen am Pro-Kopf-BIP liegt China in der Weltrangliste auf Platz 81 – hinter Papua- Neuguinea. Laut einer Weltbank-Studie werden die Chinesen erst im Jahr 2020 den Entwicklungsstand von Portugal 1990 – dem ärmsten Land der EU – erreicht haben. Auch der von westlichen Konzernen und Regierungen vielbeschworene Absatzmarkt der Zukunft ist China mitnichten. Nur 2,4 Prozent der US-Direktexporte gehen dorthin, für die Schweiz sind es weniger als 1 Prozent. «China wird als Markt, als Macht und als Quelle von Ideen überschätzt», bilanziert Gerald Segal, Direktor des Londoner Instituts für Strategische Studien.
Vor allem im Militärbereich ist die Schwäche augenfällig. Zwar hat Peking die grösste Armee der Erde. Knapp 3 Millionen Soldaten, 8500 Panzer, 4200 Kampfflugzeuge, U-Boote sowie ein Arsenal atomarer Raketen unterhält die Volksbefreiungsarmee (VBA). Allein, die Zahlen sagen nicht viel. Chinas Waffen sind veraltet. Die Panzer und Geschütze stammen zum Teil aus dem Koreakrieg. Das einzige U-Boot, das zum Abschuss von Atomraketen taugt, liegt seit einem Jahr auf dem Trockenen. China verfüge über «kein Waffensystem der Neunzigerjahre», sagt VBA-Experte David Shambaugh.
China ist ein schwacher Riese. Eine gewaltsame Eroberung Taiwans beispielsweise, wie sie Peking diesen Sommer mehrmals androhte, würde die VBA – wenn überhaupt – nur unter riesigen Verlusten zu Stande bringen. Staats- und Parteichef Jiang Zemin hat dem Militär darum ein Modernisierungsprogramm verordnet. An den Universitäten wird fieberhaft nach neuen Waffensystemen geforscht. Die Zahl der Streitkräfte soll zudem um 500 000 Mann reduziert, die Armee flexibler und moderner werden. Um sich auf «ihre Aufgaben zu konzentrieren», musste die VBA ausserdem alle Wirtschaftsbeteiligungen abstossen. Und trotzdem: Einer Hightech-Truppe wie der US-Army mit lasergesteuerten Raketen und Satellitenüberwachung ist China hoffnungslos unterlegen. Die Volksbefreiungsarmee, heisst es in einer Pentagon-Studie, liege «Jahrzehnte zurück».
Nach zwei Jahrzehnten Reformen ist China heute abhängiger vom Westen als je zuvor. Provinzen und Küstenstädte konkurrieren um Investitionen; ausländische Banken finanzieren Börsengänge, Touristen und Unternehmer bringen Devisen. Fastfood, Internet, Technomusik – wie ein Schwamm saugt China westliche Einflüsse auf.
Der Kommunismus ist nur noch ein sinnentleertes Symbol – und das hat seinen Preis. Vor dem Jahrestag hat man den Platz des Himmlischen Friedens, auf dem Mao 1949 die Volksrepublik ausrief, generalrenoviert. Die alten Steine, teilte die Stadtregierung mit, sollen als Souvenirs verkauft werden.

 

50 jahre Volksrepublik China
Von der Revolution ...

1. 10. 1949
Volksrepublik
Nach dem Sieg über die National- chinesen ruft Mao Zedong auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Volksrepublik aus. Das Volk ist zufrieden: Die Kommunisten geben den Bauern Land und füh- ren die allgemeine Schulpflicht ein.

1957
Hundert-Blumen-Bewegung
Mao ruft Intellektuelle zu Verbesserungsvorschlägen auf. «Lasst hundert Blumen blühen, lasst hun- dert Gedankenschulen miteinander wetteifern.» Als die Kritik überhand nimmt, schickt Mao Hunderttausende in Umerziehungslager.

1958
Der Grosse Sprung
Mao wird weltfremd: Um den Anschluss an die Industriestaaten zu schaffen, müssen Bauern unter dem Motto «Der grosse Sprung» Stahl kochen. Die Wirtschaft bricht zusammen. Eine Hungers-not fordert 30 Millionen Tote.

1966 bis 1976
Kulturrevolution
Um sich an der Macht zu halten, reisst Mao das Land endgültig ins Chaos. Jugendliche Rote Garden führen den «Kampf gegen reaktio- näre Elemente». Universitäten und Fabriken schliessen. Erst mit Maos Tod (1976) endet die Kampagne.

1978
Wirtschaftsreform
Deng Xiaoping startet Reformen. Die Landwirtschaft wird privatisiert. Ausländische Firmen dürfen investieren. Zwei Jahrzehnte Wirtschaftsboom folgen. Annäherung an den Westen: 1979 nehmen China und die USA diplomatische Beziehungen auf.

1989
Tiananmen-Massaker
Nach einem Jahrzehnt der Öffnung fordern Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen) politische Reformen. Deng Xiaoping schickt Panzer: Hun- derte werden erschossen. Forderungen nach Demokratie werden seitdem unterdrückt.

1997
Dengs Erben
Deng Xiaoping stirbt. Mit Jiang Zemin übernimmt ein Bürokrat die Staatsführung. Die Reformen zur Marktwirtschaft werden vorangetrieben. Politisch herrscht aber Stillstand: Das Machtmonopol der KP bleibt unangetastet.