Mit dem Rücken zur Wand
Showdown einer Abrechnung: Bundeskanzler Gerhard Schröder zittert vor der Veröffentlichung von Oskar Lafontaines Buch am 13. Oktober.
Von Fred Müller
Im rumänischen Parlament ist die SPD-Welt noch in Ordnung. Dort gilt Gerhard Schröder als ein Politiker, «der die SPD konsolidiert hat», der «in Deutschland angesehen und respektiert ist», der «mutig und verantwortungsbewusst gegen die Arbeitslosigkeit kämpft» und mit dem Schröder-Blair-Papier eine «Perspektive für eine positive Entwicklung in ganz Europa geschaffen hat». Während der Begleittross des deutschen Kanzlers die Lobrede des sozialistischen rumänischen Senatspräsidenten Petre Roman am vergangenen Freitag mit kaum kaschierter Heiterkeit verfolgte, liess sich Gerhard Schröder nichts anmerken. Er ertrug die kabarettreife Schmeichelei mit einem stoischen Gesichtsausdruck insgeheim hoffte er wohl, dass niemand auf die Idee kommen möge, die Jubelrede des rumänischen Politikers einer deutschen TV-Station als realsatirische Einlage zu verkaufen. Bukarest war letzte Woche die letzte Station einer zweitägigen Balkanreise Schröders, der in Albanien, Bulgarien und Rumänien wie ein Heilsbringer empfangen und gefeiert wurde. Das war gut fürs Ego, änderte aber nichts daran, dass der Kanzler in Gedanken zu Hause weilte. Wie die ganze SPD-Führung fieberte auch Schröder dem Auftritt des ehemaligen SPD-Chefs Oskar Lafontaine entgegen, der am Wochenende in einem Interview zum ersten Mal über seinen Nacht-und-Nebel-Rücktritt vor sechs Monaten reden wollte.
Das Interview bestätigte die schlimmsten Befürchtungen. Lafontaine macht Schröder für die SPD-Krise verantwortlich: Zum Zeitpunkt seines Rücktritts habe es keinen Kosovo-Krieg, kein Schröder-Blair-Papier und kein Sparpaket gegeben. Angesichts dieser Fehler sei das SPD-Desaster «zwangsläufig» gewesen, wer falsche politische Entscheidungen treffe, dürfe sich über die «unmissverständliche Reaktion der Wähler» nicht wundern. Fazit: Hätte sich in der rotgrünen Regierung Lafontaine durchgesetzt, «hätte man die Wahlniederlagen selbstverständlich vermeiden können».
Gerhard Schröder will einen für die SPD katastrophalen öffentlichen Showdown mit seinem ehemaligen Freund vermeiden, weshalb er offiziell zu den Angriffen Lafontaines schweigt. Diese Zurückhaltung entspricht der Anti-Lafontaine-Strategie der SPD-Führung, die den Abtrünnigen als Fahnenflüchtigen, als Verräter an der sozialdemokratischen Sache denunzieren und damit innerhalb der Partei isolieren will.
In Wirklichkeit ist die SPD-Führung nervöser, als ihre abwiegelnden offiziellen Verlautbarungen vermuten lassen. Denn das erste Interview war nur der Auftakt für eine wochenlange Kampagne, die am 13. Oktober mit der Veröffentlichung des Lafontaine-Buchs «Das Herz schlägt links» den Höhepunkt erreichen wird.
Bis heute weiss niemand, was sich Lafontaine dabei denkt, was er wirklich ausheckt. Will er sich als Buchautor und Talkshow-Gast mit Nadelstichen gegen die SPD-Regierung begnügen, oder plant er ein Comeback als Anführer eines Putsches gegen den Kanzler? Und geht er dabei so weit, die Spaltung der SPD zu riskieren?
Diese Fragen treiben auch den Kanzler um. Am Rande seiner Balkanreise suchte er deshalb das Gespräch mit der deutschen Journalistendelegation, die er ungefragt mit seiner Version des Konfliktes fütterte. Schuld an der SPD-
Krise ist nach der Meinung Schröders Oskar Lafontaine, der mit seinem überraschenden Rücktritt die fein durchdachte Architektur des triumphalen SPD-Wahlsieges zerstörte, die auf zwei sich ergänzenden Säulen beruhte: Die Säule Schröder symbolisierte Modernität, die Säule Lafontaine stand für soziale Gerechtigkeit. Der wortlose Abgang des SPD-Vorsitzenden sei verantwortungslos gewesen, weil die Regierung seither unter dem Verdacht der sozialen Kälte stehe.
Auch an Lafontaines Arbeit lässt Schröder rückblickend kein gutes Haar: Als Finanzminister habe er es innert kürzester Frist geschafft, die deutsche Regierung finanzpolitisch international zu isolieren. Sein dauernder Verweis auf die vorbildliche Niedrigzinspolitik der USA und deren Beschäftigungswunder sei unglaubwürdig, weil Lafontaine genau wisse, dass eine solche Politik eine in Deutschland undenkbare totale Flexibilisierung des Arbeitsmarkts voraussetze. Und als perfid empfindet Schröder Lafontaines Kritik am Sparpaket: Vom ersten Tag an habe innerhalb der neuen Regierung Konsens darüber bestanden, dass es zu einer konsequenten Sanierung der Bundesfinanzen keine Alternative gebe.
Im Kreis der Journalisten gibt sich Gerhard Schröder sichtlich Mühe, Gelassenheit und Selbstsicherheit auszustrahlen. Doch wie dünnhäutig der Kanzler tatsächlich geworden ist, wird schlagartig klar, als die Rede auf die Wahldebakel der letzten Wochen kommt. Aus-gerechnet der Medienkanzler setzt zu einer Medienschelte an, wirft den Journalisten vor, die Niederlagen der SPD hoch- und ihre Erfolge kleinzuschreiben. Und dann erinnert er die Runde daran, dass es bis zu den nächsten Bundestagswahlen im Jahr 2002 alle neunzig Tage irgendwo Landes- oder Kommunalwahlen gibt, von denen sich die Bundespolitik nicht beeinflussen lassen dürfe.
Natürlich weiss auch der Kanzler, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Denn bereits in acht Monaten finden in der traditionellen SPD-Hochburg Nordrhein-Westfalen Landtagswahlen statt, die für die politische Zukunft Schröders entscheidend sind. Verliert die SPD ihr westdeutsches Kernland, dürften die Tage des SPD-Kanzlers Schröder gezählt sein.
Wie gereizt die Stimmung an der nordrhein-westfälischen SPD-Basis schon ist, wurde Mitte September klar, als die SPD bei den Kommunalwahlen reihenweise Grossstädte wie Köln und Düsseldorf an die CDU verlor. Damals brachte Oberhausens SPD-Bürgermeister Burkhard Drescher den Zorn der Basis auf den Punkt. Er machte Schröder für das Debakel verantwortlich und forderte Konsequenzen: Es könne nicht richtig sein, «dass uns der Bundeskanzler wie Lemminge auf den Abgrund zuführt». Die Bundesregierung müsse sofort politische Konsequenzen ziehen und damit aufhören, ihre sozial ungerechte Sparpolitik gegen den Willen der Menschen auf Biegen oder Brechen durchzusetzen.
Keine Frage: Schröder steht mit dem Rücken zur Wand. Misslingt ihm die Trendwende bis zu den nordrhein-westfälischen Landtagswahlen, ist alles möglich. Die SPD könnte Schröder zum Rücktritt zwingen, die Grünen könnten in einem Verzweiflungsakt aus der Koalition aussteigen, CDU und FDP könnten Neuwahlen durchdrücken, oder der nächste SPD-Kanzler könnte Rudolf Scharping heissen, der zum Ärger Schröders keinen Hehl daraus macht, dass er sich als möglichen Nachfolger bereit hält.
Noch ist nichts entschieden, noch gilt das Orakel von SPD-Bundespräsident Johannes Rau, der auf dem Höhepunkt des SPD-Sommertheaters die Zeit darüber richten lassen wollte, ob das rotgrüne Deutschland «zu einer Epoche wird oder eine Episode bleibt».
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