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AUSLAND

Nach dem Uberleben

Auf skurrile und surreale Weise protestiert die Jugend Belgrads gegen den Despoten Milosevic. Vor allem aber protestiert sie gegen eine Zukunft ohne Hoffnung.

Von Dante Andrea Franzetti

Locker, in modischen Jacken und Polo-Hemden, schlendern die Menschen in Belgrads Zentrum über Plätze und Strassen. In den Läden sind sämtliche Güter ausgestellt, die das Herz begehrt: vom banalen Fa-Shampoo bis zum teuersten schottischen Whisky, vom dezenten Max-Mara-Kleid bis zum trendigen iMac, von der neuesten CD der Popgruppe Darkwood Dub – soeben ausgeliefert – bis zum Ericsson-Handy. Embargo hin oder her, Belgrad scheint eine Stadt wie jede andere westliche Stadt.
Auf der Terazije und auf der Takovska, im Café des Hotels «Moskva» und auf dem Platz der Republik lümmeln sich gestylte junge Menschen, die fliessend Englisch sprechen, E-Mails in alle Welt versenden, im Internet surfen und einem seltsame Theorien erzählen über den Einfluss des Kultfilms «Blade Runner» auf das Möbeldesign. Erst wenn man sich diese jungen Leute genauer ansieht, bemerkt man, wie verkrampft sie sich selbst und den anderen in diesen schönen Herbsttagen Normalität vorgaukeln – vielleicht zum letzten Mal, bevor im November der Winter kommt.
Vladimir Jeric, Gitarrist der Band Darkwood Dub, hat sich vorbereitet: Er hat ausfindig gemacht, an welcher Stelle in seiner Wohnung in einem Blockhaus sich der alte Kamin befindet, und er wird ein Loch in die Wand schlagen, sobald die Heizung ausfällt. Er hat sich einen Ofen besorgt, der auf dem Balkon steht, und ein Holzlager eingerichtet. In der Stadt gibt es kaum mehr Holz zu kaufen, während es immer noch möglich ist, einen «Smederevas» zu bekommen, einen Ofen, der in der gleichnamigen Stadt in Massen hergestellt wird.
Vladimir ist ein ziemlich typischer Ausdruck der hiesigen jungen urbanen Menschen: gelassen und freundlich, clever und sarkastisch. Auf die Frage, ob ihn der schubweise Niedergang seines Landes nicht deprimiere, brummt er: «Deprimiert? Ich wäre sehr gerne an irgendeinem Strand in Miami deprimiert.» Depressionen kann sich nur leisten, wer nie eine Bombardierung durchgestanden und nie unter einem Ausnahmezustand gelebt hat. Aber auch das meint Vladimir ironisch: «Die Bombardierungen fand ich ziemlich langweilig. Die ständigen Stromausfälle haben die Arbeit unserer Band verunmöglicht, und wir hatten nichts zu tun. Eine junge Fotografin hatte die Bombardierungen hingegen interessant genannt, weil Belgrad in letzter Zeit eine schläfrige Stadt geworden sei.»
Im Hintergrund säuselt der melodische Technobeat der Darkwood Dub – «kein Synthesizer, wir arbeiten mit traditionellen Rockinstrumenten». Vladimir schenkt weiteren Grappa aus Montenegro ein. Darkwood Dub ist die bekannteste Popband Jugoslawiens, die vier Belgrader waren noch vor den Bombardierungen im In- und Ausland auf Tour, doch jetzt ist die Band in Serbien eingesperrt wie alle anderen zehn Millionen Serben. Die meisten Botschaften in Belgrad sind geschlossen. Wer ein Visum für ein europäisches Land braucht, muss sein Glück in Budapest versuchen.
«Vielleicht verdienen wir es, isoliert zu sein», sagt Vladimir. «Vielleicht verdienen wir sogar Milosevic. Vielleicht ist er gekommen, um uns endgültig vom Kommunismus zu reinigen.» Vladimir ist davon überzeugt, dass Belgrad bald erneut bombardiert wird: von den Amerikanern, von den Russen, von der ganzen Welt. Nicht dass er das interessant oder begrüssenswert fände, aber er meint auch: «Vielleicht ist es der effizienteste Weg, für immer unsere grausame Vergangenheit loszuwerden.»
Ein weiterer Grappa, diesmal ein «serbisches Gebräu» – er habe heute schliesslich etwas zu feiern: Endlich ist die neue CD von Darkwood Dub, deren Produktion durch die Bombardierungen verzögert wurde, auf den Markt gekommen – besser gesagt: auf den Schwarzmarkt, denn einen Markt in unserem Sinne gibt es in Serbien nicht mehr. Hergestellt wurde «Elektro Pionir» in der Schweiz, ins Land eingeschleust wurden die zweitausend CDs – eine unter den Umständen der Mangelwirtschaft hohe Auflage – auf den üblichen Umwegen über Montenegro oder Ungarn.
Am nächsten Morgen werden die Songs der Darkwood Dub bereits vom oppositionellen Radiosender B2-92 gespielt. Vladimir wird in den kommenden Tagen mit seinen Freunden neue Stücke einüben in der Hoffnung, «dass der Wahnsinn, der uns in den letzten zehn Jahren heimgesucht hat», endlich ein Ende findet und er seinen Beat wieder in die Welt tragen kann, wo er hingehört.
Es gibt wohl niemanden unter den jungen Belgradern, der den «serbischen Wahnsinn» besser erklären kann als Miroslav Hristodulo. Der quirlige Studentenführer und Präsident der serbischen Jungsozialisten legt zunächst eine politische Analyse des Systems Serbien hin, die sich gewaschen hat: «Macht bitte in Westeuropa nicht immer ein solches Durcheinander mit den Wörtern. Dies ist kein totalitärer Staat wie Stalins Russland. Es ist auch keine Diktatur wie einst in Südamerika unter den Militärs. Einige wenige Menschenrechte werden hier gegenüber Serben immer noch respektiert. Die Polizei darf nicht alles, es verschwinden keine Leute. Der richtige Begriff für Milosevics System heisst Demokratischer Despotismus.»
Hristodulo meint damit ein System, das über demokratische Institutionen wie ein Parlament, mehrere Parteien, eine Opposition verfügt, die aber von einem Despoten fast jeglicher Unabhängigkeit beraubt wurden. Wir sitzen unter Platanen im Restaurant des bekannten Penclubhauses, einem neoklassizistischen Bau, der trotz seiner Verfallenheit eine gewisse Eleganz ausstrahlt. Wie viele sprachgewandte junge Akademiker arbeitet der junge Mathematiker als Organisator und Übersetzer für ausländische Journalisten. Für viele dieser Jungen sind die Medienleute die einzige Einnahmequelle: Wer weiter als Lehrer arbeitet, erhält einen miesen Lohn, umgerechnet 160 Franken, falls die Gehälter überhaupt ausbezahlt werden. Wer im Computerbusiness tätig war, hat seine Stelle mangels Nachfrage verloren oder gehört zu jenen 500 000 Menschen, die alleine auf Grund der Bombardierungen ihre Stelle verloren haben. In einem Land, in dem die Mittelklasse Lohneinbussen von bis zu 90 Prozent hinnehmen musste, ist ein junger Mensch, der für einen Tag Arbeit 80 oder 100 Mark verlangen kann, ein Privilegierter.
Miroslav Hristodulo gehört zu den wenigen Jungen, die man in Belgrad antrifft, die Serbien für den Zerfall der jugoslawischen Republik, für Krieg und Vertreibungen, für Massaker und Gräuel verantwortlich machen, die den Balkan seit fast einem Jahrzehnt heimsuchen. «Obwohl ursprünglich griechischer Herkunft, ist mein Vater serbischer Nationalist. Er führte mich mit sechzehn, siebzehn Jahren zu Milosevics Versammlungen. Ich bin für immer gegen das ethnische und nationalistische Gift geimpft.»
Die heutige serbische Gesellschaft nennt Hristodulo mimikrihaft, «off limits», pervertiert, irrational, «crazy». Es gibt hier private, aber politisch kontrollierte Fernsehsender wie TV Palma, deren kulturelles Gebräu aus rassistischen Talkshows, Verschwörungstheorien, Turbofolklore (aufgepeppte Volksmusik) und härtester Pornografie besteht, pure Verbreitung von Hass und Verachtung. Wenn sich die gebildete Jugend einen kaputten Abend machen will, schmeisst sie Ecstasy und Bier rein und guckt sich einen Abend lang TV Palma an. Miroslav nennt solche Abende postdepressiv.
Überhaupt die innovativen Belgrader Begriffe: Die Technoleute haben hier eine «postpessimistische Bewegung» gegründet, die auf skurrile und surreale Weise gegen die Despotie protestiert. Techno ist eine Möglichkeit, den verbreiteten Turbofolk zu bekämpfen, mit dem die heutige, vom Westen isolierte Jugend abgefüttert wird im Namen der serbischen nationalistischen Ideologie. Milosevic lässt zwar Coca-Cola, Netscape Navigator und Nokia zu – aber er führt auf seine Weise seinen eigenen isolationistischen Kulturkampf. Nicht ohne Erfolg: Von Budapest bis Belgrad müssen sich die Fahrgäste im Bus während acht Stunden die Turbofolklore bis zum Erbrechen anhören. Das Regime hat ein Gespür dafür entwickelt, was es zulassen soll, weil ein Kampf dagegen zu aufwändig wäre, und was es verbieten kann, ohne Aufsehen zu erregen. Die junge Dramatikerin Biljana Srbljanovic erregte den Ärger der Regierung, als sie während den Bombardierungen für den «Spiegel» und für die italienische Zeitung «La Repubblica» ein Tagebuch führte, in dem sie das Regime unverblümt angriff und sogar eine Art «Entnazifizierung» des serbischen Volkes verlangte. Ihre Stücke durften in Serbien nicht mehr aufgeführt werden, sie erhielt Morddrohungen und reist nur noch unter dem Schutz einer Gruppe von Freunden zwischen Belgrad und Budapest hin und her.
Biljana Srbljanovic ist eine kleine und feingliedrige Frau, doch sie strahlt eine herkuleshafte Energie aus, rattert im Schnelltempo ihre Sätze herunter und gestikuliert wild mit den Händen. Wie die meisten Intellektuellen in Belgrad hält sie die Lage in Serbien für verfahren: Milosevic muss gehen oder gegangen werden, aber die Opposition erscheint ihr wenig glaubwürdig – angefangen von Vuk Draskovic und seiner Serbischen Erneuerungspartei SPO, die in Belgrad an der Macht ist und die Stadt ausplündert, bis zum Führer der Demokratischen Partei Zoran Djindjic, der vor fünf Jahren mit dem Kriegsverbrecher Radovan Karadzic zusammengearbeitet hatte. Es ist nicht auszuschliessen, dass Biljana Srbljanovic den anderen 150 000 Intellektuellen und Akademikern folgen wird, die das Land aus Mangel an Perspektiven bereits verlassen haben. Dabei laviert auch sie zwischen Anpassung an die westeuropäischen Werte und Ressentiments gegen jene, «die uns bombardiert haben, wenige Meter von meinem Schlafzimmer entfernt». Keine Ironie, kein Sarkasmus – diese junge Frau, die noch den kleinsten politischen Akteur in ihrem verzweifelten Land kennt, ist ehrlich um Aufklärung und Fortschritt bemüht, sie wäre, wie Miroslav Hristodulo, eine hervorragende Politikerin, und doch scheint ihr der Glaube zu fehlen, dass sich in Serbien kurzfristig etwas ändern lässt. Keiner dieser Jungen will dereinst zu einer «burned generation» gehören, die sich für ein aussichtsloses Projekt geopfert hat. Dazu sind diese Jungen zu realistisch, zu pragmatisch, zu postpessimistisch und postdepressiv.
Es bleibt nur, wie etwa die trendige Modedesignerin Svetlana Prokovic, wer sich eine Nische in der Luxusbranche erobert hat, die noch in den schlimmsten Krisenzeiten Abnehmer unter den Reichen findet. Ansonsten gibt es keinen Jungen, der sich nicht über die Lebensbedingungen in Kanada oder Australien informiert hat.
Anders liegt der Fall bei Aleksandar Timofejev, dem Informationschef des halbwegs unabhängigen Radiosenders B2-92. «Persönlich beklemmend, aber beruflich interessant», nennt er seine Lage. Nicht ohne Stolz bezeichnet er sein Land als das interessanteste politische Labor in Europa – ganz richtig stellt hier niemand in Frage, dass Serbien zu Europa gehört wie Polen oder Ungarn –, obwohl oder gerade weil er seine Lektion vom Regime bereits erhalten hat.
Eines Morgens meldeten sich Beamte beim Sender B-92 und verfügten dessen Schliessung. Über hundert Leute des Medienkonzerns B-92 verloren ihre Arbeit – bis die von Draskovics Partei regierte Stadt den B-92-Journalisten anbot, den dritten staatlichen Rundfunkkanal zu übernehmen. Seither sendet B-92 unter dem Label B2-92 wieder, muss aber Rücksicht auf Draskovics Partei nehmen. Dennoch sind der Rocksender und dessen Website www.freeb92.net zurzeit die einzige Möglichkeit, zu zuverlässigen Informationen im Land zu kommen.
Trotz seiner journalistischen Mission überlegt sich Timofejev jeden Morgen, ob es noch Sinn macht, in einem Land zu leben, in dem niemand garantieren kann, dass sich die Zustände nach dem Abgang des Despoten Milosevic bessern und in dem die wichtigste Oppositionspartei, für die Timofejev jetzt arbeitet, sich an der Macht beteiligt, um sich durch Schutzgelder, Gebühren und Korruption zu bereichern. Und jeden Tag überzeugt er sich davon, dass es sich zu bleiben lohnt. Aber Kinder möchte er unter solchen Umständen nicht in die Welt setzen. Und einen Smederevas-Ofen muss er sich noch kaufen. «Man lebt von Tag zu Tag in diesem Land. Man überlebt.» Ein Rundgang im Arbeiterviertel Rakovica öffnet einem die Augen: Hier verkaufen triste Mädchen Benzin in Zweiliterflaschen, Alte sträunen verwahrlost und verloren herum, Frauen und Männer karren ihre letzte Habe aus dem Haus, um sie auf dem Schwarzmarkt in Novi Beograd zu verhökern. Man findet dort mittlerweile Ärzte, Professoren und Ingenieure, die auf diese Weise ihre Familie zu ernähren versuchen. Belgrads wahres Gesicht, so verschieden von der ausgelassenen Maskerade im Zentrum, findet man an der Peripherie, wo entlassene Arbeiter oder arbeitslose Beamte vom Staat einen Lohnausfall von 300 Dinar erhalten, umgerechnet wenig mehr als 20 Franken.

 

Portraits
Vladimir Jeric, 29

ursprünglich Mikrobiologe, ist Leadgitarrist der populären jugoslawischen Band Darkwood Dub. Er bezeichnet den Stil seiner Musik als «repetitiven Popsound mit technischen Effekten, die aber von traditionellen Popinstrumenten erzeugt werden». Die Band spielt zurzeit ihre Stücke zu viert statt zu fünft ein, da eines der Mitglieder zum Militärdienst eingezogen wurde. Informationen zur neuen CD «Elektro Pionir» erhält man über die Web-Seite www.freeb92.net

Miroslav Hristodulo, 27

ist Mathematikstudent, hat bei Radio B2-92 als Computerspezialist gearbeitet und war Leader des Studentenprotestes in den Jahren 1996/97. Heute ist er Präsident der jungen Sozialdemokraten (SDU), einer kleinen linksliberalen Partei. Seine Grosseltern wanderten aus Griechenland in Serbien ein, sein Vater wurde trotz griechischer Herkunft zu einem serbischen Nationalisten. Er provozierte damit in Miroslav die gegenteilige politische Position.

Biljana Srbljanovic, 29

ist Dramatikerin und politische Kommentatorin. Sie wurde im Westen durch ihr Tagebuch für den «Spiegel» und «La Repubblica» während der Nato-Bombardements bekannt. Ihre Stücke, die in Serbien nicht mehr gespielt werden dürfen, werden zurzeit in Deutschland und in Österreich aufgeführt. Srbljanovic trägt sich mit dem Gedanken, in die Vereinigten Staaten auszuwandern, falls sich in Jugoslawien die politische Situation nicht ändert.

Svetlana Prokovic, 31

kommt aus Aleksinak, eine der irrtümlich bombardierten Städte im Süden Serbiens. Sie ist Modedesignerin und hat soeben ein zweites Atelier in Slowenien eingerichtet. Über Mangel an Stoffen und Material zur Verarbeitung kann sie sich nicht beklagen – es gibt keine Ware, die zum entsprechenden Schwarzmarktpreis nicht illegal in Belgrad zu erwerben wäre.

Aleksandar Timofejev, 34

ist Journalist und Informationschef von Radio B2-92. Er gehörte zu den über hundert entlassenen Mitarbeitern des Medienunternehmens B-92, das auch im Verlagswesen und in der Musikproduktion tätig war, bevor das Regime den oppositionellen Sender schloss. B2-92 nennt sich das Radio deshalb, weil es eine zweite Auflage des Senders ist, der auf der Frequenz des dritten Belgrader Rundfunkprogramms sendet, das von Vuk Draskovics Serbischer Erneuerungsbewegung kontrolliert wird. Obwohl nur partiell unabhängig, erhält man über www.freeb92.net Informationen über die serbische Innenpolitik.