«Russland soll verrecken»
Die Intervention der Russen in Tschetschenien verhärtet die Fronten. Eine Tragödie droht sich zu wiederholen.
Von Gisbert Mrozek
Vor dem russischen Bomber, der aus dem heiterem Morgenhimmel auf sie herabstiess, flüchtete Lisa Alijewa mit zwei Kindern in die Garage. Sie wussten aus dem vergangenen Krieg, dass der sicherste Platz vor Splittern die Betongrube dort ist. Das ist das Erste, was Kindern in Tschetschenien beigebracht wird, sobald sie laufen können. Aber vor der Bombe, die direkt in die Garage einschlug, gab es keinen Schutz. Zusammen mit der 21-jährigen schwangeren Lisa und den zwei Kindern starben in der Nachbarschaft am Morgen des 27. Septembers noch drei Menschen.
Das Ziel der Bomben war eine Schule in Staraja Sundscha, einem ruhigen Vorort der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. «Die Russen behaupten, hier soll eine Waffenfabrik gewesen sein», sagt die Lehrerin Rosa Chadschijewa. «Das ist eine Lüge.» Einige Marx-und-Engels-Plakate hängen noch in einem verwüsteten Klassenzimmer. Im Geschichtslehrraum prangen anstelle der alten Propheten die tschetschenischen Präsidenten Dudajew, Jandarbijew und Maschadow an der Wand. Hinter dem Lehrerpult liegt zwischen Glasscherben, Schulbänken und Bauschutt ein ansehnliches Waffenarsenal: ein russisches Raketenwerfergeschoss, Panzerfäuste, Teile nicht explodierter Fliegerbomben. «Der Schrott gehört zu unserem Kriegsmuseum», sagt die Lehrerin, «hier gab es keinen einzigen islamistischen Kämpfer.» Neben ihr wischt sich die junge Marcha Alijewa, die Schwester der toten Lisa, Tränen aus den Augen. «Womit haben unsere Kinder das nur verdient?»
Marcha hat in den letzten Tagen begonnen, zusammen mit ihrem kranken Vater, einem ergrauten Weltkriegsveteranen, neben ihrem Haus Schützengräben auszuheben. Vergessen ist die Empörung über die terroristischen Bombenanschläge in Russland. Vergessen auch die Kritik an dem Vorstoss der beiden Kriegsfürsten Chatab und Bassajew in die Nachbarrepublik Dagestan. «Ich will ja nicht, dass unsere Männer kämpfen», sagt Marcha. «Aber sie werden es tun, weil sie nicht mehr anders können. Und wenn es keine Männer mehr gibt, dann werden wir Frauen weiterkämpfen.» Die Umstehenden nicken zustimmend. «Russland ist wie ein riesiges Tier», sagt Marcha. «Es wird uns nie in Ruhe lassen. Es wäre besser, wenn der Westen es nicht auch noch mit Krediten füttern würde. Soll es doch verrecken.»
Jede neue russische Bombe, die ein tschetschenisches Dorf trifft, treibt Frauen und Kinder zur Flucht und Männer zu den Waffen. Mehr als 40 Dörfer wurden in den letzten Wochen bombardiert, über 400 tote Zivilisten seien zu beklagen, sagt der tschetschenische Präsident Aslan Maschadow. Da helfen auch die Versicherungen des Moskauer Luftwaffenchefs Anatoli Kornukow nichts, bisher seien nur Banditen und ihre Basen vernichtet worden. Die russische Regierung und ihre Generäle scheinen entschlossen, die Tragödie des ersten Tschetschenien-Kriegs von 1994 bis 1996 zu wiederholen. Erst nach zwei Wochen und über 1300 Einsätzen trafen russische Bomber am vergangenen Wochenende ein Ausbildungszentrum des Feldkommandanten Chatab. Doch bis dahin hatten sich schon 65 000 Mann den Kampfgruppen des tschetschenischen Präsidenten Maschadow angeschlossen. Mehr als 1995, besser bewaffnet und besser ausgebildet. Das beweist eine Trophäe, die im Zentrum Grosnys aufgebaut wurde: ein Stück des Flügels eines abgeschossenen SU-25-Kampfbombers. Vor dem Beutekunstobjekt in Grosny posieren stolz Bewaffnete für Souvenirfotos. In zehn Jahren Afghanistan-Krieg waren nur 13 dieser gepanzerten Erdkampfbomber abgeschossen worden. In Tschetschenien verlor Russland in zwei Wochen schon zwei SU-Bomber. «Sie führen Krieg gegen Frauen und Kinder», schimpft ein grauhaariger Alter und schwingt drohend den Stock. «Aber sie werden wieder schändlich verlieren. Je weiter sie kommen, desto schlimmer für sie.»
Der Vorstoss der russischen Truppen von Norden war bis zum Fluss Terek fast wie ein Spaziergang. In wenigen Tagen eroberten sie endlose Sandsteppen, Schafherden und drei Dutzend armselige Dörfer. Dieses kaum bevölkerte Drittel Tschetscheniens ist militärisch und politisch fast wertlos. Auch im ersten Krieg war es bis zuletzt in russischer Hand.
Noch katastrophaler ist die Lage in der westlichen Nachbarrepublik Inguschetien, in der bisher über 140 000 Menschen Zuflucht suchten. Für sie gibt es noch nicht einmal genug Zelte, Baracken oder Wohnwaggons. Als Republikchef Ruslan Auschew sich aber um Hilfe an die Uno wenden wollte, wurde er von Ministerpräsident Wladimir Putin barsch zurückgepfiffen. Die Moskauer Zentralregierung werde sich ohne Einmischung von aussen um alles kümmern.
Viele der Frauen und Kinder, die vor den russischen Bomben geflohen sind, müssen bislang jedoch hungrig auf der Erde schlafen. Nur die Nachbarn helfen, so gut sie können. Die vier Rinder, die ein Bauer als humanitäre Hilfe in das Flüchtlingslager bei Karbulak trieb, wurden in Minutenschnelle zerlegt und auf den Lagerfeuern gebraten. Vier Kühe für 4000 Menschen. Und täglich kommen weitere Flüchtlinge über die Grenze. Ausser Panzern und Bomben hat Moskau ihnen nichts zu bieten.
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