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AUSLAND

Der grosse heilige Krieg

Nicht nur in Tschetschenien, auch in den früheren Sowjetrepubliken in Zentralasien fordern Islamisten mehr Macht. Die Kämpfer wähnen sich im Dschihad.

Von Marcus Bensmann

Auf einem Felsvorsprung unweit des tadschikischen Gebirgsnestes Tawildaru steht, die Kalaschnikow geschultert, Ali Taschkentli. Der sehnlichste Wunsch des 28-jährigen Mudschahed ist, im Dschihad, dem heiligen Krieg, zu sterben. «Ich habe keine Angst, nur Allah fürchte ich.» Der junge Krieger fährt sich mit der Hand über den Bart, in Zentralasien eine Geste der Endgültigkeit. Trotz seines jugendlichen Aussehens ist Ali ein Veteran des Dschihad. In Lagern an der pakistanisch-afghanischen Grenze hat er gelernt, wie Mudschaheddin zu kämpfen. Zusammen mit Tschetschenen, Uiguren und Arabern wurde Ali an allen erdenklichen Waffensystemen ausgebildet. Sie übten den Gebirgskampf wie Terroranschläge. Dazu kamen tägliche Gebetsübungen, das Auswendiglernen von Suren und Geboten und stundenlange Predigten, die einzig zum Ziel hatten, den jungen Männern nicht nur die Angst vor dem Tod zu nehmen, sondern ihn zu ersehnen. «Ich habe Männer weinen sehen, weil sie lebend aus einem Kampfeinsatz zurückgekommen sind», sagt Ali. Jeden Monat sei ein Araber in das Lager gekommen, habe die Fortschritte überprüft und jedem Kämpfer einige hundert Dollar bezahlt.
Nach der Ausbildung ist Ali erst im tadschikischen Bürgerkrieg (1992 bis 1996), dann in Tschetschenien (1994 bis 1996) gegen die Ungläubigen zu Felde gezogen. Nun folgt er seinem Kommandanten Dschumaboi Namangani in einen weiteren heiligen Krieg. Diesmal gelte es, sein Heimatland Usbekistan von dem Teufel, dem usbekischen Präsiden-ten Islam Karimow, zu befreien. Acht Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion droht sich der heilige Krieg im Kaukasus und in Zentralasien auszubreiten. Seit September versucht Russland ein zweites Mal mit einer gewaltigen Streitmacht die abtrünnige Kaukasusrepublik Tschetschenien wieder unter Kontrolle zu bringen. Endgültig soll mit den «internationalen Terroristen» aufgeräumt werden, begründete Russlands Premier Wladimir Putin den Angriff.
Den Anlass für den neuen Krieg gab der im ersten Tschetschenienkrieg bekannt gewordene Feldkommandant Schamil Bassajew. Er überfiel mit mehreren hundert Kämpfern Anfang August sechs dagestanische Grenzdörfer und verkündete die islamische Republik Dagestan. Unterstützt wurde Bassajew von Dschihadlegionär Chatab. Der Jordanier hatte von 1979 bis 1989 in Afghanistan gegen die sowjetischen Invasoren gekämpft und dann im tadschikischen Bürgerkrieg auf Seiten der islamistischen Opposition. Ihr gemeinsames Auftreten liess Putin von einer fundamentalistischen Verschwörung sprechen, die zum Ziel habe, die Russische Föderation zu sprengen.
Ebenfalls Anfang August sah sich der zentralasiatische Staat Kirgisien einem Angriff islamischer Extremisten ausgesetzt. Der Usbeke Namangani drang mit 600 Kriegern aus dem benachbarten Tadschikistan in die südliche Provinz des Staates ein. Der knapp 30-jährige Kommandant versteht sich als bewaffneter Arm der usbekischen Bewegung der islamischen Wiedergeburt. Ihr Chef, Tahir Juldaschew, organisiert von Afghanistan aus Geld und Waffen. Eine wichtige Finanzquelle ist, wie auch im Kaukasus, der Waffen- und Drogenschmuggel aus Afghanistan, wobei der Rauschgifthandel nicht nur der Finanzierung dient, sondern mehr und mehr zu einem Kriegsgrund mutiert.
Namanganis Männer können ungehindert den Grenzfluss Pjansch von Afghanistan nach Tadschikistan queren, obwohl die Region von 15 000 russischen Soldaten bewacht wird. Schon die tadschikische Opposition konnte im Bürgerkrieg diese Grenze ohne grosse Hindernisse passieren. Die Käuflichkeit in der russischen Armee ist einer der wichtigsten Verbündeten der islamistischen Truppen. In Tschetschenien haben russische Offiziere sogar ihre eigenen Soldaten für 50 Dollar an tschetschenische Geiselnehmer verkauft, die nachher das 50fache an Lösegeld einforderten.
Kommandant Namangani verlangt von Kirgisien einen Durchgang nach Usbekistan, um dort gegen Präsident Karimow einen heiligen Krieg zu entfachen. Um seine Forderung zu unterstreichen, nahmen seine Kämpfer vergangenen Monat 18 Geiseln. Erst diese Woche hat Namangani auf Druck seiner tadschikischen Verbündeten die letzten vier freigelassen.
Der usbekische Präsident Karimow nimmt die Islamisten ernst. Dabei versucht er es Russland gleichzutun und droht mit Krieg. «Wir werden denjenigen, die glauben, mit uns ein gefährliches Spiel treiben zu können, eine Lektion erteilen, von der sie noch ihren Nachfahren erzählen werden», verkündete er vergangene Woche.
Karimow hat eine klare Vorstellung davon, wie man mit Islamisten umzugehen hat. Vor allem im dicht besiedelten Ferganatal, wo seit Mitte der Neunzigerjahre über tausend neue Moscheen errichtet wurden, geht der einstige Sowjetfunktionär mit allen polizeistaatlichen Mitteln vor. Tausende junger Männer sind in den usbekischen Gefängnissen verschwunden. Vor allem nach dem Attentat im Herbst 1998 in Taschkent, dem Karimow nur um Haaresbreite entgangen war, setzten im Ferganatal Säuberungen ein, die an die schlimmste Zeit der Sowjetunion erinnerten.
Karimow lässt sich gerne als starker Mann Zentralasiens feiern, belächelt die demokratische Schwäche des kirgisischen Nachbarstaates und sieht sich als Bollwerk gegen den Fundamentalismus. Ein ausländischer Diplomat gibt jedoch zu bedenken, dass gerade die rigide Verfolgungspolitik den Boden für eine religiöse Radikalisierung bereitet.
Vor allem im benachbarten Tadschikistan sieht Karimow ein Einfallstor für die Islamisten. Er nimmt sich deshalb das Recht heraus, in dessen östlichen Provinzen «die Basen des islamischen Terrors» zu zerstören, falls die tadschikische Regierung nicht dazu willens oder in der Lage sei. Zu der Feindschaft Karimows gegen den «islamischen Terrorismus» gesellt sich der ethnische Gegensatz: Die Usbeken sind ein Turkvolk, die Tadschiken persischstämmig.
Anfangs konnten usbekische Islamisten wie Namangani damit rechnen, von den Feldkommandanten der Vereinigten Tadschikischen Opposition (OTO) unterstützt zu werden. Der Friedensvertrag vom Sommer 1996 beendete zwar offiziell den blutigen Bürgerkrieg in Tadschikistan, doch nur auf dem Papier sind die Einheiten der Islamisten entwaffnet und in die tadschikischen Streitkräfte integriert. «Die schweren Waffen sind gut in den Bergen versteckt und jederzeit reaktivierbar», bemerkt ein internationaler Beobachter in Duschanbe.
Die Ausfransung der Staatlichkeit hat sich nach dem Friedensschluss nicht geändert. Tadschikistan ist in Einflusssphären von Feldkommandanten aufgeteilt, wobei es wenig Unterschied macht, ob diese der Opposition oder der Regierung angehören. Sie haben alle Reichtümer des kleinen Landes in ihrer Hand: Aluminium, Baumwolle, Gold und Drogen. Und nachts verzocken sie im Casino der Stadt ihre Beute. Es ist eine neue Schicht Beis (Landfürsten in Zentralasien) entstanden, die sich jeder staatlichen Kontrolle entzieht. Nach Einbruch der Dunkelheit sind die Strassen Duschanbes wie leer gefegt. Dann gehört die Stadt den Kämpfern der Beis.
Maschinengewehr- und Granatfeuer sind für die Bewohner seit Jahren Normalität.
Eine wesentliche Forderung des Friedensvertrags war die Zulassung der Bewegung der islamischen Wiedergeburt in Tadschikistan. An deren erster Sitzung Mitte September wurde OTO-Führer Abdullo Nuri mit grosser Mehrheit
zum Vorsitzenden gewählt. In einer programmatischen Rede forderte er die Errichtung eines islamischen Staates. Nuris Gruppierung ist die einzige islamische Partei, die in den Staaten Zentralasiens legal agieren kann.
Die gesellschaftliche Realität in Tadschikistan steht Nuris Plänen allerdings diametral gegenüber. Die wesentlichen Elemente einer Volksfrömmigkeit wie Beschneidung, Hochzeiten, Beerdigungen werden von der überwiegend sunnitischen Bevölkerung nach dem islamischen Ritus befolgt, doch haben siebzig Jahre Sowjetunion die Menschen an ein weltliches Leben gewöhnt. «Allein der Wodka verhindert eine Islamisierung Zentralasiens», ist ein oft gehörter Spruch in dieser Gegend, und tatsächlich sind selbst einige OTO-Feldkommandanten einem Gläschen nie ganz abgeneigt. «Als Erstes knüpfen uns die tadschikischen Frauen an den nächsten Baum, wenn wir den islamischen Staat verkünden», scherzte Chodschi Turadschonsodah, der frühere geistliche Führer der islamischen Bewegung.
Die Frauen nehmen einen festen Platz im öffentlichem Leben ein. Sie leiten Banken, arbeiten als Journalistinnen oder sind in der Politik tätig. Sewar Dschurajewa ist eine der selbstbewussten Frauen Tadschikistans. Sie arbeitet als engagierte Journalistin beim Staatsradio, lacht herzlich und feiert gerne. Sie entstammt einer einflussreichen Familie im Ferganatal. Ohne Scheu pflegt sie Umgang mit den dortigen Feldkommandanten. Der Kontrast zu ihrem Sohn Akbar könnte nicht grösser sein. Akbar studiert dank des Stipendiums eines saudischen Geschäftsmannes Islamwissenschaften in Kairo und ist für die Ferien nach Duschanbe gekommen. Seinen Bart hat er gestutzt, um beim Zwischenstopp in Moskau nicht von der Polizei angehalten zu werden. Der Student hält sich streng an die Regeln des Korans. Seine Frau ist tief verschleiert und muss sofort den Raum verlassen, wenn fremde Männer sich nähern. Dennoch brennt Akbar nicht darauf, im heiligen Krieg den Schlüssel zum Paradies zu finden. Er möchte lieber Tadschikistan verlassen und in einem islamischen Staat wie Saudi-Arabien leben.
Die Prediger eines Gottesstaates in Tadschikistan haben selbst in den Hochburgen der Opposition kaum Anhänger. In der vorsowjetischen Zeit konnte sich der Islam nie in den Bergregionen des Karategins und des Pamirs durchsetzen. Im Gegensatz zu der sunnitischen Mehrheit im übrigen Zentralasien leben im Pamir Ismailiten, eine schiitische Glaubensgemeinschaft, denen jeder religiöse Fanatismus fremd ist.
Der Konflikt in Tadschikistan hatte anfangs ähnlich wie im Kaukasus einen regionalen Charakter. Nach der Unabhängigkeit der tadschikischen Sowjetrepublik strebten die Clans der Hochlandtadschiken aus dem Karategin und dem Pamir an die Regierung, um die jahrzehntelange Vorherrschaft der Clans aus der Nordprovinz Leninabad zu brechen. Erst im Laufe des Konfliktes verbündeten sich die Hochlandtadschiken mit der islamischen Bewegung zur OTO.
Auf Grund der im Friedensvertrag vorgesehenen Machtteilung zwischen Regierung und Opposition wurde OTO-Chefideologe Turadschonsoda 1998 Vizepremier. Im Bürgerkrieg hatte er die Kontakte zu den arabischen Financiers hergestellt, mit deren Hilfe die OTO in der Lage war, von ihrem Exil in Afghanistan aus eine schlagkräftige Mudschaheddintruppe aufzubauen. Die OTO geriet durch diese Abhängigkeit immer mehr in radikalislamisches Fahrwasser.
Jetzt plädierte Turadschonsoda jedoch überraschend dafür, sich für die Anfang November anstehenden Wahlen um den amtierenden Präsidenten Imomali Rachmonow zu scharen. Die islamische Partei solle auf die Aufstellung eines eigenen Kandidaten verzichten. Die Partei reagierte rasch und heftig: Turadschonsoda wurde einen Tag später aus der Partei ausgeschlossen. Vorsitzender Abdullo Nuri sitzt derweil im Hauptquartier in Duschanbe zwischen zwei Fronten. Im ehemaligen Hotel «Warsch» hat er Quartier bezogen. Von seinen brutal wirkenden Leibwächtern umgeben, empfängt der ergraute Oppositionsführer in seinem Büro Bittsteller, verkündet Ultimaten und verliest Erklärungen. Die sanften braunen Mandelaugen wollen nicht so recht zu dem Kämpfer Nuri passen.
Während ein Teil der OTO, meist diejenigen Kommandanten, die einen staatlichen Posten erhalten haben, Turadschonsoda folgt und zum Präsidenten überläuft, werfen ihm radikale Kommandanten Verrat am Dschihad vor. Floss in Kriegszeiten das Geld reichlich, haben die meisten ausländischen islamischen Organisationen nach dem Friedensvertrag die Zahlungen an die OTO eingestellt. Der Frieden hat die Mudschaheddinarmee in Habenichtse und Amtsträger gespalten. Die Habenichtse im Karategintal unterstützen die usbekischen Islamisten, denn für diese sprudeln wieder die Geldquellen.
Abdullo Nuris wichtigste Stütze ist der mächtigste Kommandant der OTO, Mirso Siojew aus Tawildaru. Seit Juli diesen Jahres ist er Minister für Katastrophenschutz. Trotz seines Amtes sieht er sich noch immer als Gotteskämpfer. Und alte Verbindungen aus dem Dschihad sind zu pflegen. Mit Namangani hat er im tadschikischen Bürgerkieg gekämpft. Siojew unterstützt die Pläne seines usbekischen Kampfgefährten auch materiell. Namangani konnte in Tawildaru Lager einrichten und hat freien Durchgang auf seinem Weg von Afghanistan nach Kirgisien.
Wohl noch dieses Jahr droht Tadschikistan weiteres Ungemach. Hunderte Tadschiken, die seit sechs Jahren in Koranschulen in Pakistan ausgebildet worden sind, werden heimkehren.
Seit ihrem 12. oder 13. Lebensjahr sind die Jungen zu Gotteskriegern erzogen worden. Wobei das Bedienen einer Kalaschnikow zum Schulstoff gehörte. Sie sind darauf trainiert, ähnlich wie Ali Taschkentli den Schlüssel zum Paradies im Märtyrertod zu finden.

 

Soldaten- Mütter Russlands
«Das ist alles leeres Gekläff»

Der Ansturm in der winzigen Lutschnikow-Gasse in der Moskauer Altstadt ist gross. Rund sechzig Personen, Verwandte junger Männer im wehrdienstpflichtigen Alter ab 18, suchen hier täglich Hilfe – beim Verband der Organisationen der Soldatenmütter Russlands. Er ist Nachfolger des Komitees der Soldatenmütter, das 1996 den alternativen Nobelpreis erhielt.
Präsident Boris Jelzin hat versprochen, beim Angriff auf Tschetschenien nur erfahrene Berufssoldaten an die Front zu schicken. «Alles Lüge», antworten die Mütter, «in Tschetschenien und in Dagestan, wo die Kämpfe weitergehen, sind um die 30 000 junge Männer eingesetzt, die im ersten Jahr ihres Wehrdienstes stehen.»
Die Mitglieder des Verbands sind sich sicher: «Dieser Krieg ist die Revanche unserer Militärs für Afghanistan.»
Was den von der Armee im Norden Tschetscheniens besetzten Gebietsstreifen betrifft, wollen die Soldatenmütter nicht glauben, dass die Armee humanitäre Hilfe leistet und eine Verwaltung aufbaut. «Das ist alles leeres Gekläff», sagt Valentina Melnikowa, 53, Mitbegründerin des Verbandes: «Unsere Soldaten dort sind halb verhungert, schlecht beschuht. Es herrscht der totale Krieg. Bei der Art von Waffen, die man einsetzt, werden automatisch jeden Tag Wohnhäuser zerstört.»
Von der Begründung, man müsse gegen die Banditen von Feldkommandant Bassajew und gegen die Geiselnehmer in Tschetschenien militärisch vorgehen, hält Melnikowa wenig: «Ich wohne im Moskauer Stadtteil Orjechowo-Borisowo, der hat über eine Million Einwohner, genauso viele wie Tschetschenien Anfang der Neunzigerjahre. Und bei uns gibt es genauso viele Banditen wie heute in Tschetschenien. Trotzdem würde ich mich dagegen wehren, wenn die Regierung deshalb unsere Häuser bombardierte.» Barbara Kerneck