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AUSLAND

Normal ist gar nichts

Neustadt in Bayern, Sonneberg in Thüringen: Die Euphorie ist weg, ein gehässiger Ton dominiert das Verhältnis der Nachbarn.

Von Fred Müller

Tagein, tagaus hört Christina Becker am Marktplatz im bayerischen Neustadt die murrende Stimme des Volkes, Version West. Am Imbiss-Kiosk schimpfen ihre Kunden über die «blöden Ossis» aus der thüringischen Nachbarstadt Sonneberg, die sich vom Westen aushalten lassen und dann trotzdem PDS wählen, die für Stundenlöhne von acht Mark arbeiten und den Wessis die Arbeitsplätze wegnehmen.
Christina Becker stammt selbst aus der DDR, trotzdem versteht sie die Wut ihrer Kundschaft: «Die Sonneberger sind wie zu DDR-Zeiten passiv und träge.Sie müssen noch hart an sich arbeiten, bis sie in Neustadt akzeptiert werden.»Fünf Kilometer weiter östlich, an Volker Wunders Imbissbude an der Sonneberger Bahnhofstrasse murrt Volkes Stimme ebenfalls, diesmal in der Version Ost. Wunders Kunden empören sich über die «arroganten Wessis» in Neustadt, die ihnen vorschreiben wollen, «wie wir zu leben und was wir zu denken haben». Und auch hier sorgen vor allem die ungleichen Löhne für böses Blut: Neun Jahre nach der deutschen Einheit könne es doch nicht sein, dass ein Sonneberger Busfahrer noch immer 25 Prozent weniger verdient als sein Kollege in Neustadt.
Niemand wünscht sich in Sonneberg die DDR zurück, weil es heute fast allen besser geht als vor der Wende, doch das Gerede der Wessis können die Menschen nicht mehr ertragen. «Je besser wir uns kennen lernen», bringt Volker Wunder Volkes Stimme auf den Punkt, «desto weniger mögen wir uns.»
Das Kennenlernen begann vor zehn Jahren. Drei Tage nach dem Mauerfall in Berlin öffnete die DDR am 12. November 1989 auch den alten Grenzübergang zwischen Sonneberg und Neustadt, der seit 1952 gesperrt und seit 1961 hermetisch abgeriegelt war. Noch heute geraten die Menschen in beiden Kleinstädten ins Schwärmen, wenn sie von der euphorischen Stimmung nach der Grenzöffnung erzählen, als sich die Menschen um den Hals fielen und es die bösen Worte «Ossi» und «Wessi» noch nicht gab. Niemand konnte sich damals den gehässigen Ton vorstellen, der heute das Verhältnis zwischen den 25 000 Sonnebergern und den 17 000 Neustädtern dominiert. Aus den Brüdern und Schwestern sind Konkurrenten geworden, die sich in einen erbitterten Kleinkrieg um Investoren, Arbeitsplätze und Steuerzahler verbissen haben. Aus der Sicht des Westens eröffnete der Osten die Feindseligkeiten, weil Sonneberg Anfang der Neunziger am früheren Grenzübergang den Bau eines riesigen Einkaufszentrums bewilligte. Das Konsumparadies auf der grünen Wiese trieb zwanzig Neustädter Einzelhändler in den Konkurs, und die Überlebenden klagen noch heute über die Halbierung ihrer Umsätze.
Neustadt erwiderte den Angriff aus dem Osten auf der westlichen Seite des ehemaligen Grenzüberganges mit der Ansiedlung mehrerer Baumärkte und einer McDonald’s-Filiale. Wo sich Ost und West im Kalten Krieg jahrzehntelang bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden, findet nun eine heisse Ost-West-Schlacht um die Portemonnaies der Konsumenten statt. Und dann ist da die Geschichte mit dem alten Hallenbad aus DDR-Zeiten, das Sonneberg für zehn Millionen Mark renovieren möchte. Da Neustadt bereits ein modernes Wellenbad hat, halten die Wessis die Sanierung des Ost-Bades für puren Unsinn. Sinnvoller wäre ihrer Meinung nach der Bau einer Kunsteisbahn, die es in der Region weit und breit nicht gibt.
Solche Ratschläge verbittet sich Sonnebergs parteilose Bürgermeisterin Sibylle Abel ganz entschieden. Als ob sie die Gesetze der Marktwirtschaft mit der Muttermilch aufgesogen hätte, referiert die ehemalige SED-Genossin routiniert über «harte» und «weiche» Standortfaktoren. Das Hallenbad sei unverzichtbar, es gehöre wie das Kulturangebot zu den «weichen» Standortfaktoren, die für die Investoren genauso wichtig seien wie die Qualität der Arbeitskräfte oder die Höhe der Subventionen.
Deshalb hat die Bürgermeisterin für den Protest der Nachbarn im Westen nur ein Lächeln übrig: Es sei verständlich, dass den Neustädtern die wachsende Attraktivität Sonnebergs nicht gefalle, historisch betrachtet sei Neustadt ja immer nur die arme Vorstadt Sonnebergs gewesen und habe nun Angst, «in die alte Abhängigkeit zurückzufallen».
Damit meint die Bürgermeisterin das Kräfteverhältnis zwischen den beiden Städten vor dem Zweiten Weltkrieg, als Sonneberg das wohlhabende bürgerliche Zentrum der Region war und in Neustadt die armen Leute wohnten, die ihren Lebensunterhalt als Heimarbeiter für Sonnebergs florierende Spielzeugindustrie verdienten. Heute träumt die Stadt von einer Renaissance ihrer einstigen Blütezeit, als die «Weltspielzeugstadt» Sonneberg vierzig Prozent des deutschen Spielzeugmarktes beherrschte, als es eine Filiale von Woolworth und ein amerikanisches Konsulat gab. Tatsächlich lassen die vielen sorgfältig restaurierten Bürgerhäuser und das eindrucksvolle Spielzeugmuseum erahnen, wie gut es der Stadt am Rande des Thüringer Waldes einmal gegangen sein muss.
Nach der Teilung Deutschlands lagen beide Städte am Ende ihrer jeweiligen Welten und mussten sich neu orientieren. Doch während die DDR Sonneberg
verkommen liess, baute die BRD Grenzstädte wie Neustadt zu Schaufenstern des Westens auf. Mit grosszügigen Subventionen sorgte Bonn für die Ansiedlung von Industrien und den Aufbau einer modernen Infrastruktur. Grösster Arbeitgeber in Neustadt wurde ein Siemens-Kabelwerk, das der Staat mit Förderbeiträgen von bis zu 50 Prozent in die strukturschwache Region lockte. Neustadt florierte, bis weit in die Achtzigerjahre gab es keine Arbeitslosigkeit.
Nach der Grenzöffnung verlor Siemens das Interesse an Neustadt, baute ein Drittel der 2000 Arbeitsplätze ab und verhandelt jetzt über den Verkauf des Werks. Denn die Subventionen fliessen seit der deutschen Einheit nicht mehr in die ehemaligen westdeutschen Grenzregionen, sondern in den Osten des Landes, der für Neustadt in Sonneberg beginnt.
Der Rückzug von Siemens ist nur die Spitze des Eisberges. Seit der Grenzöffnung pendeln 16 000 Thüringer nach Bayern, wo sie die Einheimischen vom Arbeitsmarkt verdrängen, davon 1200 in Neustadt, während die 900 Arbeitslosen Neustädter in Sonneberg nur selten einen Job finden. Das ist gut für Sonneberg, das mit zehn Prozent die niedrigste Arbeitslosenquote Thüringens hat – aber schlecht für Neustadt, wo die Arbeitslosigkeit ebenfalls Richtung zehn Prozent geht, fast doppelt so hoch wie Ende der Achtziger.
Angesichts der Zahlen malt der Siemens-Betriebsratsvorsitzende Swen Götz ein düsteres Szenario für die Neustädter: «Die Stadt blutet nach und nach aus,
Einzelhandel und Tourismus finden im Osten statt, in zehn bis zwanzig Jahren könnte Neustadt wieder wie früher zur armen Schwester Sonnebergs verkommen.»
Solche Prophezeiungen verweist Neustadts Oberbürgermeister Frank Rebhahn ins Reich der Gruselmärchen. Die Furcht der Neustädter vor einem «Abschwung West» hält der SPD-Politiker für Panikmache. Schliesslich hänge Sonneberg auf unabsehbare Zeit am Geldtropf des Westens; Neustadt dagegen ist kaum verschuldet und kann sich im Gegensatz zu Sonneberg aus eigener Kraft finanzieren. Dann folgt ein Vortrag über das «professionelle Politik-Management» der Stadt, das auch Sonneberg in die Entwicklung der Region einbeziehe, die eine glänzende Zukunft als Hightech-Standort vor sich habe. Auch von einem Ost-West-Konflikt könne keine Rede sein, das Hickhack zwischen den beiden Städten sei bloss Ausdruck eines «normalen Standortwettbewerbes zwischen zwei normalen deutschen Städten». Das ist noch nicht einmal die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit ist an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze zwischen Bayern und Thüringen nichts normal. Trotz der gemeinsamen Geschichte und des gleichen Dialektes sind sich Sonneberger und Neustädter fast noch fremder als etwa Nachbarstädte im deutsch-französischen Grenzgebiet.
Wie die Politiker belauern sich auch die Menschen beider Städte argwöhnisch, hüben und drüben ist die Angst zu spüren, vom jeweils anderen über den Tisch gezogen zu werden. «Aha, Sie wohnen also drüben», sagen beispielsweise die Neustädter mit einem missmutigen Unterton, wenn sie erfahren, dass sich ihr Gesprächspartner für ein Sonneberger Hotel entschieden hat.
«Hier herrscht einfach Frust», fasst die Neustädter Lokalredaktorin Jasmin Walker die Stimmung zusammen. Die Journalistin hat gelernt, auf die Empfindlichkeiten der West-Leser Rücksicht zu nehmen. Sonneberger Themen muss sie vernachlässigen, weil sonst die Leser der «Neuen Presse» umgehend mit Abo-Kündigungen drohen. Und um die schlechte Stimmung nicht weiter anzuheizen, verzichten die Lokalredaktoren der «Neuen Presse» darauf, in ihren Berichten über Bürgerversammlungen all die Aggressionen gegen den Osten zu schildern, die sie dort immer wieder erleben. Jasmin Walker führt den Frust im Westen nicht nur auf die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zurück, sondern vor allem auf die «Gesprächsverweigerung» der Nachbarn im Osten.
Von «Kommunikationsblockaden» sprechen auch die Lokalredaktoren des «Freien Wortes» in Sonneberg, für die – wen wunderts? – Redaktionsleiterin Martina Hanka allerdings die Neustädter verantwortlich macht: «Solange die Wessis an ihren Vorurteilen über die Ossis festhalten, kann es kein wirkliches Miteinander geben.» Neben vielen andern Dingen müsse der Westen endlich kapieren, dass die PDS im Osten eine normale Volkspartei sei und dass es sich nicht um kommunistisches Teufelszeug handle, wenn sich Ost-Jugendliche nicht konfirmieren lassen, sondern wie zu DDR-Zeiten lieber zur atheistischen Jugendweihe gehen.
So sieht sie aus, die Mauer in den Köpfen, die in den letzten zehn Jahren immer höher geworden ist. Wie lange es dauern wird, bis auch diese Mauer fällt, können die Neustädter und Sonneberger nicht sagen. Optimisten rechnen mit einer Generation, Pessimisten wie die Neustädter Blumenhändlerin Astrid Eckhard haben die Hoffnung aufgegeben. Die 47-Jährige ist davon überzeugt, dass die Mauer im Kopf die Deutschen bis ans Ende ihrer Tage trennen wird: «Für meine Generation gehören Ossis und Wessis für immer und ewig zwei verschiedenen Welten an.»
Deshalb ist auch niemand auf die Idee gekommen, das Jubiläum der Grenzöffnung mit einem Fest zu feiern. Nur die Bundeswehr lädt mit kleinen Plakaten zum «Gala-Konzert» ein – am ersten Tag für die Wessis im nahen Coburg, am zweiten für die Ossis in Sonneberg.

 

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Ich, der KGB-Spion

Von der Teilung zur Wiedervereinigung
1945
Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs teilen Roosevelt (M.), Churchill (l.) und Stalin die Welt in West und Ost auf.

9. 5. 1945
Nazi-Deutschland kapituliert, Aufteilung des Landes in vier Besatzungszonen, auf dem Berliner Reichstag weht die sowjetische Fahne.

1948
Die UdSSR blockiert Berlin als Reaktion auf die Einführung der D-Mark in den Westzonen, Beginn der Teilung Deutschlands und des Kalten Kriegs, Luftbrücke nach Berlin.

1949
Gründung zweier deutscher Staaten, Gründungsakte in Bonn und Ostberlin.

1953
Arbeiteraufstand in der DDR, Sowjet- Panzer in Ostberlin.

1961
Bau der Berliner Mauer, um die Flucht von DDR-Bürgern zu stoppen.

1970
Beginn der deutsch-deutschen Entspannungspolitik: Kanzler Willy Brandt, SPD, trifft in Erfurt DDR-Ministerpräsident Willi Stoph, SED.

1972
Deutsch-deutscher Grundlagenvertrag, Aufnahme beider Staaten in die
Uno, gegenseitige völkerrechtliche
Anerkennung und Aufnahme diplomatischer Beziehungen.

1975
Höhepunkt der internationalen Entspannungspolitik mit der Verabschiedung der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki.

1985
Amtsantritt Michail Gorbatschows in
der UdSSR, Beginn von Perestroika
und Glasnost.

1987
Einziger Staatsbesuch von DDR-Staatschef Erich
Honecker in Bonn.

4. 9. 1989
Erste Montagsdemo in Leipzig: «Wir sind das Volk!»

4. 11. 1989
Eine Million Teilnehmer bei Grossdemo in Ostberlin.
9. 11. 1989
Fall der Mauer.

März 1990
Freie Wahlen in der DDR, CDU-Sieg.

3. 10. 1990
Wiedervereinigung, Ende des Kalten Kriegs.

Stimmung
Böse Wessis, frustrierte Ossis

Zehn Jahre nach dem Mauerfall leben die Deutschen mental noch immer in zwei verschiedenen Welten. Zahlreiche Umfragen und wissenschaftliche Studien belegen, dass sich Ost- und Westdeutsche heute eher noch fremder fühlen als vor ein paar Jahren. Zwar ist die Mehrheit der Ostdeutschen mit den persönlichen Lebensverhältnissen eher zufrieden, dennoch ist ihre Distanz zum Westen gewachsen. Nach dem Sozialreport 99 des sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg fühlen sich nur 20 Prozent der Ostdeutschen als Bundesbürger. Nach Umfragen sind 60 Prozent der ehemaligen DDR-Bürger von der Demokratie und der Marktwirtschaft enttäuscht, und fast ebenso viele halten den Sozialismus nach wie vor für eine gute Sache, die in der DDR nur falsch angepackt wurde.

Beidseitige enttäuschung
In beiden Landesteilen sind die Menschen von der Einheit tief enttäuscht. 70 Prozent der Ostdeutschen und 50 Prozent der Westdeutschen gehen davon aus, dass das «Gemeinschaftsgefühl» künftig «eher abnehmen» wird. Den Pessimismus teilen gar die Kinder des Mauerfalles: Nur jeder Fünfte der heute 16- bis 25-Jährigen glaubt, die innere Einheit sei erreicht.
Die wachsende Distanz zeigt auch eine Reihe von neuen Büchern, in denen Westautoren mit Titeln wie «Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl» oder «Die Ossis als Belastung und Belästigung» ihrer Aggression gegen den Osten freien Lauf lassen.